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Familien innerhalb und ausserhalb der Krippe   

Simone Rosenkranz zur Lesung am Fest Heilige Familie (30. Dezember): Kol 3,12–21

 

Die Weihnachtszeit ist auch Familienzeit. Nachdem die Weihnachtstage mit ihren Familienzusammenkünften vorbei sind, lädt uns die Lesung aus dem Brief an die Kolosser ein, über das Gebilde «Familie» nachzudenken. Der Text tut dies durch für heutige Ohren durchaus provokative Aussagen. Beginnen wir mit einem Bild: Der 30. D ezember ist das Fest der «Heiligen Familie». In der Krippe und auf zahlreichen Werken der abendländischen Kunst können wir diese Heilige Familie, nämlich Maria, Josef und das Jesuskind bewundern. Doch damit beginnen auch schon die Probleme: So intakt und harmonisch ist diese Heilige Familie ja gar nicht: Josef ist der Ziehvater des Kindes in der Krippe, der erst nach einer Engelserscheinung bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen (Mt 1,19–25). Noch komplizierter wird es, wenn wir die für das Fest der Heiligen Familie vorgesehenen Lesungstexte beiziehen: Da ist die Rede von einer ungewollt kinderlosen, unglücklichen Frau (1 Sam) und von Eltern, die ihren während dreier Tage verschollenen Sohn suchen (Lk 2,41–52). Die biblischen Texte gehen offensichtlich nicht von einem bruchlosen Familienidyll aus!

Paulus im jüdischen Kontext

Die Autorschaft des Kolosserbriefes ist umstritten: Vieles deutet darauf hin, dass der Brief nicht vom Apostel selbst, sondern von einem seiner Schüler geschrieben wurde. Der Brief nimmt jedoch in unserer Passage ein Thema auf, das den authentischen Paulus immer wieder beschäftigt hat, nämlich die Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie überhaupt das Zusammenleben in der Familie. Paulus bzw. sein Schüler richten sich an die Kolosser in einem Moment der Krise: Die Gemeinde von Kolossae war in ihrem Zusammenhalt durch eine neue religiöse Strömung bedroht. In diesem schwierigen Moment tritt die Familie, als wichtiger Baustein auch der christlichen Gemeinden, in den Blickpunkt. Paulus diskutiert das Thema Familie an verschiedenen Stellen seines Werkes. Dabei sind zwei sehr unterschiedliche Tendenzen zu beobachten: Einerseits scheinen für Paulus in der christlichen Gemeinschaft die Grenzen zwischen Mann und Frau aufgehoben zu sein: «Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus» (Gal 3,28; Kol 3,11 nimmt diesen Gedanken auf, lässt allerdings die Aufhebung von männlich und weiblich weg!). Andrerseits betont Paulus an zahlreichen Stellen seines Werkes die hierarchische Ordnung zwischen Mann, Frau, Kindern und Sklaven, wie er es auch in unserer Passage tut, etwa im ersten Petrusbrief: «Ebenso sollt ihr Frauen euch euren Männern unterordnen, damit auch sie, falls sie dem Wort nicht gehorchen, durch das Leben ihrer Frauen ohne Worte gewonnen werden, wenn sie sehen, wie ehrfürchtig und rein ihr lebt. (…) (7) Ebenso sollt ihr Männer im Umgang mit euren Frauen rücksichtsvoll sein, denn sie sind der schwächere Teil» (1 Petr 3,1–7, vgl. auch Eph 5,21–6,9; Tit 2,1–3,2; 1 K or 11,2–7). Z wischen diesen beiden Polen – auf der einen Seite die Freiheit von diskriminierenden Unterschieden, auf der anderen Seite geschlechtliche Ungleichheit und ein hierarchisches Familienmodell – diskutiert Paulus die Beziehung zwischen den Geschlechtern. D ieses «Dilemma» wird bereits in den ersten Kapiteln der hebräischen Bibel angesprochen. Die ersten beiden Kapitel der Genesis enthalten zwei Schöpfungsberichte, wobei der erste von einer gleichzeitigen und gleichwertigen Erschaffung von Mann und Frau ausgeht: «Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie» (Gen 1,27). Der zweite Schöpfungsbericht hingegen geht von einer zeitlich verzögerten Erschaffung der Frau aus dem Mann und für ihn aus: «Da liess Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau (Hebräisch: «Ischa») soll sie heissen; denn vom Mann (Hebräisch: «Isch») ist sie genommen» (Gen 2,21–23). Frühjüdische rabbinische Ausleger haben diese beiden Schöpfungsgeschichten zu harmonisieren versucht, indem die Schöpfung als zweistufiger Prozess gedacht wurde, wie es im Midrasch Bereschit Rabba, einem spätantiken Kommentar zur Genesis, heisst: «Rabbi Jeremja ben El’azar sagte: In der Stunde, als Gott den ersten Menschen erschuf, erschuf er ihn als Androgynos, wie es heisst: Als Mann und Frau schuf er sie (Gen 1,27). Rabbi Samuel bar Nachman sagte: In der Stunde, als Gott den ersten Menschen erschuf, hatte er zwei Gesichter, Gott durchsägte ihn aber in zwei Hälften und bildete zwei Rücken aus ihm, den einen nach dieser und den anderen nach jener Seite» (Bereschit Rabba 8,1). Zunächst erschuf Gott den Menschen als zweigesichtigen Androgynos, um ihn nachher in zwei Hälften, in Mann und Frau zu teilen. Dieser ursprüngliche ideale «androgyne » Zustand schwebt Paulus vielleicht im Galaterbrief vor, während er für das Leben im Hier und Jetzt wie in unserer Passage an der traditionellen hierarchischen Rollenverteilung festhält.1 Trotz diesen Parallelen zwischen der hebräischen Bibel, dem Midrasch und Paulus gibt es Unterschiede: In der hebräischen Bibel widerspricht die Zweiheit der Geschlechter, die Vielfalt und Diversität der Gottebenbildlichkeit nicht, im Gegenteil: «Als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie» (Gen 1,27). Paulus scheint dieser Vielfalt gegenüber – jedenfalls im Galaterbrief – skeptischer zu sein, indem er letztendlich ihre Aufhebung postuliert.

Heute mit Paulus im Gespräch

Paulus und die Rabbinen lebten in einer Welt, die tiefgreifenden politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen unterworfen war – wie wir heute. In dieser Situation begegnet Paulus immer wieder als Fragender und als Suchender, gerade auch was das Familienleben betrifft. Aber nicht nur Paulus «ringt» um ein passendes Familienmodell, auch die hebräische Bibel und die frühjüdische und rabbinische Literatur tun dies. Dieses Ringen drückt sich vielleicht auch in der Vielfalt der Familienkonstellationen aus, die uns die heutigen Lesungstexte bieten. Was wir aus diesen Texten mitnehmen können, ist wohl weniger ein konkretes Modell als das Bemühen, gute – auch vielfältige – Formen des Zusammenlebens in Liebe und in gegenseitigem Respekt zu suchen und zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang seien auch nochmals die zu Beginn erwähnten bildlichen Darstellungen der Heiligen Familie erwähnt. Die Darstellung der Heiligen Familie in der christlichen Kunst erfährt im frühen 17. Jahrhundert einen Wandel: Josef, Maria und Jesus erscheinen nun nicht mehr nur um die Krippe, sondern auch als Gehende. Auch die Heilige Familie ist unterwegs! Die im ersten Teil unseres Lesungstextes aus dem Kolosserbrief erwähnten «Tugenden »: Güte, Geduld, Milde und Liebe sind wohl passende Begleiter, dass dieses «Gehen » in und mit der Familie gelingen kann.