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Die Menschenfreundlichkeit Gottes – trotz allem   

Weihnachten am Morgen: Tit 3,4–7, SKZ 49/2012

 

Nach der Geburt eines Kindes, insbesondere des ersten, sind in der Regel alle Beteiligten reichlich erschöpft. Doch der Schlaf der Mutter wird für die darauffolgende Zeit ein leichter sein, mehr ein Schlummer, unterbrochen durch die Bedürfnisse des Kindes nach Nahrung, Säuberung, Trost und Schutz. Das Kind bestimmt in der ersten Zeit nach der Geburt den Schlaf- und Wachrhythmus zumindest der Mutter, heutzutage oft der Eltern. Auch wenn es mit der Zeit in den Familienalltag eingewöhnt wird, hat es diesen durch seine Geburt für immer verändert. Die Veränderung ist natürlich nicht rückwirkend, und doch gelingt sie nur, weil das Kind mit seinen Bedürfnissen ein Echo bei den Familienangehörigen findet, Beschützerinstinkte, Verantwortungsbewusstsein, Zuwendung und bestenfalls Liebe wachruft, die in der Anlage schon längst vorhanden waren. Die Geburt eines Kindes ist wie ein Regenguss auf die Erde, der den darin verborgenen Samen zum Keimen bringt. Sie schafft nicht den Samen, aber Bedingungen zur Möglichkeit, dass er sich entfalten kann – wobei sich ähnliche Bedingungen auch auf anderem Weg schaffen lassen. Wenn der Same jedoch nicht keimt, hat auch das Kind schlechte Chancen, sich zu entfalten, ist schlimmstenfalls sein Überleben gefährdet. Die Geburt eines Kindes ist zugleich eine Gnade und eine Aufgabe – die nicht zurückgegeben werden kann.

Tit 3,4–7 im jüdischen Kontext

Wie es dem Wort Gnade schon innewohnt, betont der Verfasser des Briefes an Titus, dass die Zuwendung Gottes an die Menschen allein dessen Erbarmen entspringt und keineswegs verdient ist. Niemand hat ein Recht darauf. Diese Einsicht wird auch Israel ins Bewusstsein gerufen, bevor es den Jordan überschreitet, um ins – bereits bewohnte – Gelobte Land einzuziehen. Für einmal sei die Stelle ausführlich zitiert: «Denn nicht weil du im Recht bist und die richtige Gesinnung hast, kannst du in ihr Land hineinziehen und es in Besitz nehmen. Vielmehr vertreibt der Herr, dein Gott, diese Völker vor dir, weil sie im Unrecht sind und weil der Herr die Zusage einlösen will, die er deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob mit einem Schwur bekräftigt hat. Du sollst erkennen: Du bist ein halsstarriges Volk. Daher kann dir der Herr, dein Gott, dieses prächtige Land nicht etwa aufgrund eines Rechtsanspruchs geben, damit du es in Besitz nimmst. Denk daran, und vergiss nicht, dass du in der Wüste den Unwillen des Herrn, deines Gottes, erregt hast. Von dem Tag an, als du aus Ägypten auszogst, bis zur Ankunft an diesem Ort habt ihr euch dem Herrn ständig widersetzt » (Dtn 9,5–7). D ie «Milde und Menschenfreundlichkeit » Gottes ist also weder Verdienst derer, die in ihren Genuss kommen, noch Trost oder Wiedergutmachung wegen erlittenen Unrechts. Israel erhält das Land nicht wegen besonderer Frömmigkeit und ebenso wenig, weil es in Ägypten in Knechtschaft war. Vielmehr hat es die Befreiung daraus mit Unmut und Widersetzlichkeit beantwortet, und dennoch erhält es das Land. Mit der erlebten Gnade wird damit nichts über die Empfangenden ausgesagt, sondern einzig über Gott, den «Sender». Die G nade Gottes ist keine Antwort auf ein «weil», sondern sie ist eine Aufhebung des «weil» in ein «trotz (allem)». Dennoch ist sie keine reine Willkür. Der Gott der Väter und Mütter hat sich durch Verheissungen an diese gebunden. Diesem Bund bleibt Gott treu, auch wenn diese Treue oft einseitig ist und damit der Vertrag rein rechtlich betrachtet hinfällig wäre. Gott hingegen nimmt den Bund so ernst, dass er ihn sogar den Söhnen und Töchtern gegenüber erneuert, ohne deren Unzulänglichkeiten zu übersehen: «… denn Gott ist Zeuge seiner [des Lästerers] heimlichen Gedanken, untrüglich durchschaut er sein Herz und hört seine Worte» (Weish 1,6).

Mit dem Verfasser des Titusbriefes im Gespräch

Das Menschenbild, welches der Verfasser des Titusbriefes vermittelt und das unter anderem in biblischen Texten immer wieder begegnet, ist nicht besonders ansprechend. Es vermittelt ein wenig den Eindruck, der bereits in den Anregungen zu Tit 2,11–14 kritisiert wurde: als könnte Gott nur gross sein, wenn der Mensch klein ist bzw. klein gemacht wird. Doch auch wenn der Mensch als bei der Geburt «unbeschriebenes Blatt» betrachtet wird, können wir nicht umhin, zu sehen, dass es keine Möglichkeit gibt, dass sich nur positive Eigenschaften entwickeln und durchsetzen. Die Verhältnisse lassen nicht zu, dass Menschen ausschliesslich gut bleiben oder werden – und das ändert sich nicht, solange es keine ausschliesslich guten Menschen gibt. Tröstlich mag dabei sein, dass es auch keine ausschliesslich schlechten Menschen gibt. D ie Güte und Menschenliebe Gottes (Tit 3,4) zeigt sich darin, dass Gott den Menschen trotz seiner Schwächen nicht gering achtet, sondern als Bundespartner anerkennt und ihm die Treue selbst dann noch hält, wenn der Bund einseitig gebrochen oder in Frage gestellt wird. Die Schwachheit des Menschen ist nicht eine Grundverfasstheit, die ihn klein macht, sondern spiegelt sich in seiner (mangelnden) Sozialkompetenz: «… wir waren früher unverständig und ungehorsam; (…), lebten in Bosheit und Neid, waren verhasst und hassten einander » (Tit 3,3). Genau darin liegt die Hoffnung, denn das Wesen des Menschen lässt sich nicht grundlegend ändern, wohl aber sein Verhalten; unabhängig davon, wie lange er sich schon so verhalten hat, wie er sich verhält. Das «Bad der Wiedergeburt» und die «Erneuerung im Heiligen Geist» (Tit 3,5) lässt nicht einen neuen Menschen erstehen, sondern befähigt den betroffenen Menschen, trotz allem Bisherigen auf neue Weise zu leben. Auch hier ist die Gnade Gottes nicht eine Antwort auf das «weil» sondern ein «trotzdem». G erade an Weihnachten erkennen Hirten und Weise die Grösse Gottes gerade im kleinen, wehrlosen Kind. Die Engel verkünden als Zeichen, dass es in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Nicht der Umstand, dass Neugeborene unschuldig sind, lässt also dieses Kind als von Gott gesandten Retter erkennen, sondern sein Eingebettetsein in einen sozialen Kontext. Obwohl es mit Sicherheit durch seine Geburt das Leben seiner Eltern, durch sein späteres Wirken das Leben einiger seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen und durch seinen Tod und die Auferweckung das Leben vieler, die daran glauben, verändert hat, hat er nicht die Menschen selbst rückwirkend verändert. Was immer sie mitgebracht haben, wurde durch Gottes Eingreifen nicht ungeschehen gemacht, doch er ermöglicht immer wieder ein Anders- und in diesem Sinn Neuwerden. Die Geburt Jesu war wie oben vermerkt wie ein (erneuter) von Gott gewirkter «Regenguss», der die in der «Erde» vorhandenen Samen zum Keimen brachte. Mit Gottes Hilfe können die Keime weiter wachsen und zur Blüte gelangen.