Wir beraten

Effata – werde offen   

Katharina Schmocker Steiner zum Evangelium am 23. Sonntag im Jahreskreis: Mk 7,31–37, SKZ 33-34/2012

 

Wer kennt sie nicht, die drei Affen, von denen sich der eine die Augen, der zweite die Ohren und der dritte den Mund zuhält. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen und so unbescholten durchs Leben gehen – eine Versuchung, der in gewissen Zeiten schwer zu widerstehen ist. In der Regel sind es genau die Zeiten, in denen es dringend nötig wäre, dass gesehen, gehört und ausgesprochen wird, welche Ungerechtigkeiten geschehen, welche Not erlitten wird. Nicht durch das Negieren, sondern durch das Benennen wird der Hoffnung ein Weg durch die Öde der Verzweiflung gebahnt.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

In Jes 34–35 wird den Heiden das Strafgericht Gottes, Israel jedoch die Rettung und ewige Freude prophezeit. Zu Beginn steht die Aufforderung: «Kommt herzu, ihr Heiden, und höret; ihr Völker, merkt auf! Die Erde höre zu und was sie füllt, der Erdkreis und was darauf lebt!» (Jes 34,1). Gott fordert die volle Aufmerksamkeit alles Lebendigen, wenn er Zerstörung, Verwüstung, Ödnis und Lebensfülle, Herrlichkeit, ewige Freude einander gegenüberstellt. Indizien für den Anbruch besagter Heilszeit sind unter anderem: «Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken (gemäss Septuaginta: durchdringend, deutlich sein)» (Jes 35,5 f.). In diesen Zusammenhang stellt das Markusevangelium die Heilung eines sogenannt Taubstummen, indem die Anwesenden die entsprechenden Aspekte aus dem Jesaja-Zitat aussprechen: «Tauben gibt er das Gehör und den Stummen die Sprache» (Mk 7,37). Alles scheint bestens, Jesu Handeln den Anbruch der Heilszeit zu signalisieren. Doch die Harmonie der Übersetzung wird dem griechischen Text nicht gerecht. Denn die Menschen sind gemäss diesem nicht «ausser sich vor Staunen», sondern «über alle Massen entsetzt/bestürzt», und sie finden das Handeln Jesu nicht gut (agathos), sondern schön, hübsch oder edel (kalos). Während wir uns mit dem deutschen Text eine (weitere) glatte Heilung mit entsprechender anerkennender Reaktion zu Gemüte führen können, an der eigentlich nur überraschend ist, dass die therapeutischen Massnahmen Jesu so konkret geschildert werden, lässt der griechische Text irritiert aufhorchen. Die Aussage des Volkes wirkt wie ein betretenes «schön, schön», mit dem über ein unerwartetes und unerwünschtes Ereignis bzw. Ergebnis hinweggegangen wird, um zu signalisieren, dass ihm nicht zu viel Bedeutung zugemessen werden soll. Warum sonst steht «er hat alles schön gemacht» im Perfekt, das anzeigt, dass damit die Sache erledigt, abgeschlossen, dass in dieser Hinsicht nichts mehr zu erwarten ist?

Mit Markus im Gespräch

Dem Ereignis voraus geht die Begegnung Jesu mit der Syrophönizierin, die ihn zu überzeugen vermag, dass auch die Heiden und Heidinnen am Heilsgeschehen Anteil haben sollen. Andererseits steht das ganze Markusevangelium im Kontext der Katastrophe für die Juden durch die Tempelzerstörung. Ist damit eine Umkehrung von Jes 34–35 gegeben? Und während die Syrophönizierin Hindernisse wie Jesu Versuch, verborgen zu bleiben, und seinen Widerstand überwindet, muss der Taube zu Jesus gebracht werden. Sein Gebrechen legt das, anders als bei Blinden, Lahmen und Bettlägerigen, nicht notwendig nahe. Will er vielleicht gar nicht bei Jesus vorstellig werden? Ist es hier Jesus, der Widerstände überwinden muss? Um Erfolg zu haben, zieht sich Jesus mit dem Tauben zurück, weg von der Menge. Das bringt die beiden in eine vertrauliche Nähe zueinander, was erneut im Kontrast steht zur zuvor geschilderten Fernheilung.

Für die Heilungserzählungen ist es ungewöhnlich, dass hier detailliert beschrieben wird, was Jesus tut, und sein Tun ist seinerseits überraschend und wirft Fragen auf. Paradoxerweise steckt er die Finger in die Ohren, was ja eher dazu dient, nichts zu hören, als die Ohren zu öffnen. Aber vielleicht steckt er gar nicht dem Tauben die Finger in die Ohren, sondern sich selbst, um dem Tauben zu zeigen – da er es ihm ja nicht sagen kann –, was er zu tun hat, nämlich den Finger herauszunehmen, zuzulassen, dass er hört. Die Aufforderung steht im Imperativ passiv: Werde geöffnet, allenfalls: lass dich öffnen. Während Jesus den Finger ins Ohr (ous) steckt, wird dem Mann das Gehör, das Hören (akoä) geöffnet. Es mag spitzfindig erscheinen, zwischen dem Ohr als Hörorgan und dem Gehör als Sinn zu unterscheiden.

Doch das ist es nicht allein. Akoä steht hier im Plural, was nicht bedeutet, dass das Gehör aus mehreren Sinnen bestünde. Vielmehr kann akoä auch Gerücht, Kunde, Erzählung heissen und der Plural wird als Ausdruck für Traditionen verwendet. Das griechische kophos, mit dem der Mann beschrieben wird, schliesslich kann taub heissen, aber ebenso gut auch stumpf, kraftlos, unempfindlich, dumm. Muss Jesus hier nicht einen physischen Defekt, sondern eher eine psychosoziale Beschränkung überwinden? Weniger offensichtlich als bei Krankheiten wie Aussatz oder Blutfluss, die per se einen Ausschluss aus der Gemeinschaft mit sich bringen, heilt Jesus dennoch auch hier mit dem Organ des Mannes auch dessen Leben. Er wird nicht nur gesund, sondern auch wieder Mitglied einer Gemeinschaft. Die Öffnung seines Sinnes für das Hören eröffnet ihm den Sinn der Traditionen und integriert ihn damit in die Gesellschaft einerseits und in das Heilsgeschehen andererseits. Anders als bei der Syrophönizierin wissen wir nicht, ob es sich dabei um einen heidnischen Mann handelt, der in den Heilszusammenhang aufgenommen, oder um einen jüdischen Mann, der sozusagen reintegriert wird. Sehr subtil verbindet Markus in seiner Schilderung so den exklusiven – Jesus nimmt den Mann beiseite – und den universellen – es könnte jeder und jede sein – Aspekt des Heilsplans Gottes. Dieser hat sich nicht geändert, sondern erweitert, Gott hat sich in seiner Zuwendung zu den Heiden nicht von Israel abgewendet, sondern führt Erstere seinem Volk zu, gliedert sie ein. Insofern könnte der taube, kraftlose Mensch symbolisch für diejenigen stehen, die sich dieser guten Kunde verschliessen und damit auch unempfänglich, verständnislos werden gegenüber der eigenen Tradition.

Weiter steht anders als in der Übersetzung «er berührte die Zunge des Mannes mit Speichel» im griechischen Text: «spuckend berührte er seine Zunge». Dass könnte heissen, dass Jesus dem Mann wieder auf eine diesem wahrnehmbare Weise signalisiert: «Spucks aus, was dich beschäftigt. Lass dir nicht den Mund verbieten.» Auch hier eröffnet eine Sprachnuance ein allegorisches Verständnis dieser Heilung. Der Patient ist nämlich nicht stumm, nicht unfähig, zu sprechen (alalos), sondern mit schwerer Zunge sprechend (mogilalos). Ihm blieb offenbar aus irgendeinem Anlass die Spucke weg, die Zunge im Hals stecken. Als ihm die Fesseln von der Zunge gelöst werden, ist das Resultat nicht, dass er spricht, sondern dass er auf die rechte Art, richtig, wahr spricht. Möglich, dass damit nicht die Heilung, sondern das, was der Mann zu sagen hat bzw. sich jetzt zu sagen traut, das Entsetzen der Umstehenden auslöst.