Wir beraten

Unruhe unter den Massen und keine gute Zeit zum Essen   

Ursula Rapp zum Evangelium am 16. Sonntag im Jahreskreis (22.07.): Mk 6,30–34, SKZ 27-28/2012

Der Übergangstext zwischen der Ermordung Johannes des Täufers (Mk 6,21–29) und der grossen Speisung (Mk 6,35–56) zeigt uns, dass der Mord an Johannes und das Bedürfnis zu essen die Menschen zu Jesus treibt. Es sind die hungernden, verarmten Menschen, die Jesus nachlaufen, weil er ihre letzte Hoffnung auf Rettung ist.

Was in den Schriften geschrieben steht

Das Evangelium ist sehr bewegt. Da gibt es die äussere Bewegung: Die Apostel versammeln sich bei Jesus (Vers 30), die Menschenmengen kommen und laufen zusammen (Vers 31.33), Jesus und die Apostel fahren mit dem Boot davon, hier herrscht ein reges Kommen und Gehen. Dann gibt es auch innere Bewegung, die Aufregung, die spürbar ist: die Apostel erzählen Jesus, was geschehen ist, die Mengen von Menschen sehen und bewegen sich, und schliesslich Jesus, der von all dem Bewegtsein berührt ist (Vers 34), weil die Menschen so ziellos sind wie Schafe ohne Hirtin oder Hirten. So viel Unruhe! Wo rührt das her?

           Da ist zunächst der Kontext: Direkt vor der Perikope wird davon berichtet, dass Johannes der Täufer von Herodes ermordet wurde und dass seine Jüngerinnen und Jünger den Leichnam holten und ihn begruben. Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger waren zweifellos verbunden mit Johannes, Jesus liess sich ja auch taufen von ihm. Es war also eine Zeit der Trauer, der inneren Rast- und Ratlosigkeit. Jesus will die Trauernden wegschaffen an einen einsamen Ort, damit sie Ruhe fänden.

           Dieser einsame Ort, eremos genannt, ist die Bezeichnung für Wüste, ein Ort für Menschen, die Gott suchen oder mit Gott gehen: Abraham geht dorthin, als Gott im sagt, er solle aufbrechen (Gen 12,9), Mose ist da, als er den brennenden Dornbusch entdeckt (Ex 3,1). Auch Israel soll in die Wüste, um dort Gott zu dienen, Gott also anzuerkennen als ihre befreiende Gottheit (Ex 5,1.3; 8,23). Auch psalmbetende Menschen kennen die Wüste als Ort der Ruhe, der Einkehr und des Schutzes (Ps 55,7). Das Markusevangelium beginnt schon mit dem Ruf, dass diese Wüste der Ort ist, an dem Gottes Kommen angekündigt werden wird (Mk 1,3, ein Zitat aus Jesaja 40,3). Der gerade hingerichtete Johannes lebte und lehrte auch in der Wüste (Mk 1,4), Jesus wird gleich nach seiner Taufe vom Geist an diesen Ort geführt und widerstand der Versuchung Satans (Mk 1,12 f.), er betet dort (1,35). Auch der geheilte Aussätzige ging in die Wüste und erzählte den Leuten, die ihm folgten, von Jesus (Mk 1,45). Die Liste lässt sich fortsetzen. Die Wüste ist ein einsamer Ort der Begegnung mit Gott, ein Ort, an dem sich Wesentliches herauskristallisiert.

           Dann aber folgt eine eigenartige Bemerkung als Begründung: «Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen.» Hatten die Jüngerinnen und Jünger vor lauter pastoraler Arbeit keine Zeit mehr zum Essen? Ist es so wie bei uns, manchmal geht sich das Essen eben nicht aus? Im griechischen Text steht etwas anderes: «denn es war keine gute Zeit (eukairon) zum Essen». Das Wort «gute Zeit» oder «günstige Zeit» finden wir in den alttestamentlichen Schriften kaum, nur im Zweiten Makkabäerbuch, wo es um politisch-strategisch günstige Momente geht. Mit dem Essen verbunden ist günstige Zeit ein Lob- und Vertrauensruf, vielleicht auch ein versteckter Ruf des Hungers in Psalm 104: «Sie alle warten auf dich, dass du ihnen ihre Speise gibst zu seiner Zeit» (Psalm 104,27). Die gute Zeit zum Essen ist im Psalm eine Zeit, die nur Gott kennt und weiss. Vielleicht schauen hier die hungernden Beterinnen und Beter auf zu Gott, ob von da Nahrung kommt (vgl. auch die Hungernden in Ijob 30,3)? Vielleicht überlesen wir den drohenden Hunger zu schnell, weil wir ihn nur aus den Nachrichten kennen.

           Was meint Markus? Es war nicht die Zeit, die Gott zum Essen bestimmt hat. Warum? Stress, denken wir satten Menschen, die Hunger nicht kennen. Es kann aber auch Hunger sein. Vielleicht hatten diese Menschen Hunger. Vielleicht strömten sie in diesen Mengen daher, weil sie hungernde Mengen waren, voll Hoffnung, dass Jesus Nahrung für sie hat. Es ist im Text ja auch nicht klar, wer da keine gute Zeit zum Essen hatte: die Apostel oder die Menschenmenge oder beide Gruppen?

           Markus erwähnt das Wort noch an einer sehr bedeutsamen Stelle, in 6,21: «Und es begab sich ein Tag von guter Zeit, dass Herodes an seinem Geburtstag ein Gastmahl für seine Grossen, die Befehlshaber und einflussreichsten Leute aus Galiläa gab.» Hier gibt es ein Gastmahl, also viel reiches und gutes Essen im Herrscherhaus – zu guter Zeit. Herodes hat also gute Zeit zum Essen. Nur das Volk nicht. Das deutet auf ungerechte Verhältnisse und hungernde Mengen hin. Das ist es, was Jesus berührt.

           Die Schafe, die keine Hirtenleute haben, hungern. Die Hirten sollten sie auf gute Weiden führen, die es aber vielleicht nicht gibt, weil die Menschen alles durch hohe Steuern hergeben müssen, weil es Missernten und Dürre oder alles zusammen gibt. Das Bild von den Schafen ohne Hirten kennt das Erste Testament gut: Da ist zunächst Moses Bitte um einen Nachfolger in Num 27,17: Wenn das Volk ohne Hirt ist, dann hat es niemanden an seiner politischen und kriegerischen Spitze. Auch Judit 11,19 verwendet das Bild für den Kriegsherrn und sein Volk und Jeremia und Ezechiel meinen auch die politischen Herren (Jer 23,1; Ez 34,2.5.8.10.12), die ihre Schafe nicht führen. Leidet Jesus also, weil er sieht, dass Herodes ein schlechter Hirte ist für diese Menschen? Weil Herodes zwar Gastmähler für die Reichen und Einflussreichen gibt, das Volk aber hungern lässt oder in den Hunger treibt?

           Was lehrt Jesus diese Menschen dann? Zusammenzuhalten? Zu teilen, was da ist? Er liefert ein Exempel nach und sagt den verzagten Jüngerinnen und Jünger einfach: Gebt ihnen zu essen. Einfach so, obwohl fast nichts da ist. Jesus zeigt das Beispiel eines anderen Hirten: der das Überleben und das Zusammenhalten lehrt und dadurch ein Wunder geschehen lassen kann. Das Einzige, was vor dem Hungertod und der Ausbeutung durch die Herrschenden schützen kann, ist das Zusammenhalten. Wirkt es Wunder? – Jedenfalls verbreitet sich die Kunde von der Speisung in rasantem Tempo und treibt scheinbar noch mehr Menschen auf die Strassen, auf denen Jesus zu finden ist (6,54–56).

Mit Markus im Gespräch

Markus, nur verdeckt weist du auf die hungernden, rastlosen Menschenmengen hin. Du kennst den Hunger und willst vielleicht gerade deshalb nicht zu offen und eingehend auf dieses Thema eingehen, weil der Hunger weh tut und ratlos macht. Wir kennen das nicht, wovon hier die Rede ist, weil wir immer wieder vergessen, dass uns die biblischen Texte von Rettung aus grosser Not erzählen. Dass hier Menschenmengen auf den Strassen sind, weil ungerechte Politik betrieben wird, indem die Führungsgestalten des Volkes ermordet werden und die Herrschenden prassen, während die Massen hungern, müssen wir vorsichtig aus der Erzählung erlesen. Es sind hier nicht die gläubigen, sondern die hungernden Massen hinter Jesus her.