Wir beraten

Eine neue Zeit   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am Fest der Geburt Johannes des Täufers (24.06.): Lk 1,57–66.80, SKZ 23/2012

 

Die Kirche kennt nicht viele Festtage, an denen eine Geburt gefeiert wird. In der Regel wird der Todestag von Heiligen begangen. Zu den wenigen Geburtstagen, die Eingang in den christlichen Kalender gefunden haben, gehört – neben Weihnachten – der 24. Juni, an dem das Fest der Geburt Johannes’ des Täufers begangen wird. Dieses Fest findet genau 6 Monate vor Weihnachten statt, denn «im sechsten Monat (der Schwangerschaft Elisabeths) wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heisst Nazareth» (Lk 1,26). Damit fallen der Johannistag und Weihnachten auf Sommer- und Wintersonnenwende. Das Fest des Johannes bezeichnet eine zweifach neue Zeit: den Beginn des individuellen Lebens und der Beginn einer neuen Zeit in der Natur.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Trotz der Betonung eines Neubeginns steht die Geburtsgeschichte des Johannes in der Tradition anderer Geburtsgeschichten, repetiert und variiert Lk 1,57–80 die Berichte über die Geburt alttestamentlicher Gestalten. Auch Bezüge innerhalb des Lukasevangeliums, besonders zur Geburt Jesu, bestehen. Lukas nimmt dadurch das im Judentum gängige «zyklische» Geschichtsverständnis auf: Auch im Neuen Testament werden die Muster der Vergangenheit offenbar, die Gegenwart erhält ihren Sinn (auch) in Bezug auf die Vergangenheit.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Geburtserzählung von Jesus und Johannes innerhalb des Lukasevangeliums, so fallen zahlreiche Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede auf: In beiden Fällen wird die Geburt vom Engel Gabriel angekündigt – einmal im privaten Haus der Maria und einmal im Tempel aller Öffentlichkeit. In beiden Fällen erfolgt die Geburt auf wunderbare Weise, in beiden Fällen spielt der Tempel eine Rolle (vgl. Lk 1,5–23 und Lk 2,22–52) und wachsen und erstarken die Kinder mit der Hilfe Gottes (Lk 1,80 und Lk 2,40). Neben diesen Ähnlichkeiten gibt es aber auch zahlreiche Unterschiede: Im Fall von Jesus erscheint der Engel der Mutter, im Fall von Johannes dem Vater. Die Mutter Jesu vertraut dem Engel sogleich und stimmt einen Lobgesang an, Zacharias kann die Botschaft zunächst nicht glauben und verstummt für neun Monate. Erst nach diesen neun Monaten des stummen Wartens findet er seine Sprache wieder und kann Gott prophetisch preisen (Lk 1,67–79). Die beiden Geburtsberichte ergänzen einander und zeigen bereits die enge Verbindung von Johannes und Jesus an: Johannes kündigt das Kommen Jesu an, er ist dessen Vorläufer (Lk 3,15–17).

Auf dem Hintergrund der hebräischen Bibel gelesen, erweist sich unsere Lukaspassage als aktualisierende Nacherzählung der Geburtsberichte wichtiger Persönlichkeiten. Im Folgenden sollen nur ein paar ausgewählte Motive herausgegriffen werden: So spielt bei der Geburt von Jesus und Johannes – ähnlich wie bei der Geburt von Moses – die Anwesenheit von Frauen eine grosse Rolle: Neben Elisabeth und Maria ist dies die Prophetin Hanna (Lk 1–2; Ex 2). Ganz leise klingt hier bereits die Befreiung an, die Moses, Jesus und Johannes herbeiführen.

Wie der Geburt des Johannes geht auch der Geburt vieler Personen aus der hebräischen Bibel Unfruchtbarkeit zuvor: So der Geburt Isaaks (15–18), der Geburt Jakobs und Esaus (Gen 25,21), der Geburt Josefs (Gen 30), der Geburt Samuels (1  Sam  1) und der Geburt Simsons (Ri 13). Diese Unfruchtbarkeit macht das besondere Wirken Gottes bei der Geburt deutlich.

Besonders viele Bezüge bestehen zwischen der in 1 Sam 1 berichteten Geburt Samuels und Lk 1: Hanna, die Frau des Elkana, ist unfruchtbar und geht nach Silo, um Gott zu bitten, ihr ein Kind zu schenken. Eli, der Priester, hält die stumm betende Frau zunächst für betrunken – wie Zacharias verstummt Hanna, zumindest für Aussenstehende. Auch der Prophet Ezechiel wird übrigens zeitenweise von Stummheit erfasst (Ez 3,26)! Hanna erklärt Eli ihre Sorge, worauf dieser ihr versichert, dass Gott ihre Bitte erhört habe. Hanna gebärt tatsächlich einen Sohn, Samuel, den sie Gott weiht und Eli übergibt.

Wie im Falle des Zacharias ergeht die Botschaft Gottes an Hanna im Tempel. Der Tempel ist der Ort der Gottesbegegnung par excellence (vgl. Jes 6,1, 1 Sam 3) und spielt auch in der Kindheitsgeschichte Jesu eine Rolle (Lk 2,22–52). Für Lukas ist dieser Tempel immer noch zentral!

Anders als Lukas geht die göttliche Botschaft in 1 Sam 1 an eine Frau, an Hanna. Damit ist eine Spannung aufgenommen, die bereits bei Lukas gegeben ist, wenn der Engel einmal der Mutter (Maria) und einmal dem Vater (Zacharias) erscheint. Ein Blick auf die Rolle der Väter in den zahlreichen Geburtsgeschichten der hebräischen Bibel zeigt, dass diese sehr unterschiedlich ist: Dem Abraham erscheint ein Engel, um ihm die Geburt Isaaks anzukündigen (Gen 18), Isaak bittet für die unfruchtbare Rebekka (Gen 25,21), Elkana tröstet die kinderlose Hanna (1 Sam 1,8) und Jakob weist alle Verantwortung für den kinderlosen Zustand Rachels von sich (Gen 30,2). Zacharias scheint ähnlich wie Isaak um Kinder gebetet zu haben (Lk 1,13).

Nach der Geburt erhalten sowohl Samuel (1 Sam 1,20) als auch Johannes einen Namen, der eine bestimmte Bedeutung trägt. Johannes («Jochanan» auf Hebräisch) und Hanna («Chana» in Hebräisch) sind übrigens beide vom hebräischen Wort für Gnade («Chen») abgeleitet – eine weitere «Verlinkung» zwischen den beiden Texten!

Auch die spätere «Funktion» des Johannes nimmt auf Samuel Bezug: Samuel salbt die ersten Könige Israels, er leitet dadurch die Zeit der Monarchie in Israel ein. Johannes kündigt Jesus, den «Sohn Davids» an, der die Verwirklichung des Königreiches Gottes initiiert. Sowohl Samuel als auch Johannes stehen damit am Beginn einer neuen Zeit.

Johannes kündigt eine neue Zeit an, die von Jesus eingeleitet wird. Nicht zufällig feiert die Kirche daher seinen Geburtstag!

Im Gespräch mit Lukas

Unsere Passage beleuchtet diese «neue Zeit» aus mindestens drei verschiedenen Perspektiven: Das durch Johannes eingeleitete Wirken Jesu wird – indem die beiden Geburtstage von Jesus und Johannes gleichzeitig die beiden Sonnenwenden markieren – kosmologisch verankert: Die durch Jesus initiierte neue Zeit ist so wichtig, dass ihre Bedeutung den Rahmen unserer Alltagswelt sprengt und den gesamten Kosmos umfasst. Diese kosmologische Verankerung muss in unserer Zeit wohl auch als kosmologische Verantwortung gelesen werden.

Die «historische», heilsgeschichtliche Perspektive weist auf die neue Zeit, das Königreich Gottes, das durch Johannes angekündigt und durch Jesus eingeleitet wird.

Daneben gibt es in unserem Text aber auch noch eine sehr persönliche Interpretationsebene: Nicht nur die Mutter, Elisabeth, wartet neun Monate auf ihr Kind. Auch der Vater, Zacharias, wird durch die Schwangerschaft verändert: Er muss neun Monate auf die Wiedererlangung seiner Sprache warten, um dann mit der Geburt nicht nur die Sprache, sondern auch das Vertrauen in Gott zu gewinnen. In keinem Text der Bibel hat eine Schwangerschaft so gravierende Auswirkungen auf den Vater wie die Schwangerschaft Elisabeths auf Zacharias! Ist das nicht eine Aufforderung an alle, sich mehr Zeit zum «Schwanger-Sein» zu nehmen, den Mut zur Stummheit zu haben, damit daraus etwas Neues, Fruchtbares und Bedeutungsvolles entstehen kann?