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Wenn Gott selber die Sichel schickt …   

Dieter Bauer zum Evangelium am 11. Sonntag im Jahreskreis: Mk 4,26-34, SKZ 21-22/2012

 

Diesen Sonntag gibt die alttestamentliche Lesung tatsächlich einmal eine «Steilvorlage» für das Verständnis des Evangeliums. Ezechiel 17 liefert nämlich den herrschaftskritischen Schlüssel zum Verständnis der beiden Wachstumsgleichnisse Jesu, deren Auslegung sonst oft allzu schnell in naturromantische Betrachtungen mündet. Dem Anspruch der Reich-Gottes-Botschaft Jesu würde man so allerdings in keiner Weise gerecht.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Das Gleichnis von der Senfstaude (Mk 4,30–32) endet mit einer Anspielung an ein Prophetenwort: «Dort treibt er dann Zweige, er trägt Früchte und wird zur prächtigen Zeder. Allerlei Vögel wohnen darin; alles, was Flügel hat, wohnt im Schatten ihrer Zweige» (Ez 17,23). Dass bei Ezechiel nicht von einer Senfstaude, sondern von einer Zeder die Rede ist, wird die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas dann dazu veranlassen, von einem Senf-«Baum» zu reden, auch wenn es diesen in der Natur so nicht gibt (Mt 13,32; Lk 13,19). Wovon aber sprach Ezechiel in seinem «Gleichnis» (Ez 17,2)?

Die Berufung des Priestersohnes Ezechiel zum Propheten war im Exil in Babylonien erfolgt, wohin er und die «oberen Zehntausend» Judas nach der ersten Eroberung Jerusalems durch die Babylonier 596 v.  Chr. verschleppt worden waren. Von dort aus erhob er warnend seine Stimme in Richtung Jerusalem, die Macht der Babylonier nicht zu unterschätzen: «Kein Aufstand in Jerusalem» (Bernhard Lang). Allein: Seine warnenden Worte waren vergebens. Der vom König von Babel eingesetzte judäische König Zidkija wagte den Aufstand, was zur endgültigen Eroberung und Zerstörung Jerusalems und seines Tempels führte. Darauf nimmt der Prophet in seinem Gleichnis Ez 17,1–24 Bezug:

Im Bild der Libanonzeder blickt er auf das judäische Königshaus, dessen «Wipfel» (König Jojachin) der babylonische «Adler» deportiert hat (V. 3 f.). Trotzdem revoltiert sein vom babylonischen Herrscher eingesetzter Nachfolger, indem er seine «Wurzeln» dem Pharao entgegenstreckt, um sich von ihm «tränken» zu lassen (V. 7). Diese Perversion führt schliesslich zur endgültigen Katastrophe (V. 19–21). Gott selbst aber – so die Vision Ezechiels – wird einen neuen Baum pflanzen, der zum Weltenbaum werden und den Exilierten neuen Schutz bieten wird: «Auf die Höhe von Israels Bergland pflanze ich ihn. Dort treibt er dann Zweige, er trägt Früchte und wird zur prächtigen Zeder. Allerlei Vögel wohnen darin; alles, was Flügel hat, wohnt im Schatten ihrer Zweige» (V. 23).

Dieses positive Beispiel einer Königsherrschaft, die ganz von Gott her kommt, hat offensichtlich auch Markus inspiriert, das Senfkorngleichnis Jesu in ebendiesem Sinne zu verstehen: Gegen jede Kritik, dass die von Jesus angekündigte Königsherrschaft Gottes doch viel zu klein und unscheinbar sei, setzte er die Überzeugung des Propheten: «Ich mache den hohen Baum niedrig, den niedrigen mache ich hoch. Ich lasse den grünenden Baum verdorren, den verdorrten erblühen» (Ez 17,24). Darin schwingt die prinzipielle Herrschaftskritik Jesu mit, die zu einer Umwertung aller Werte führt: «Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch gross sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein» (Mk 10,42–44).

Nicht zufällig schliesst schon das vorangehende Jesusgleichnis von der selbstwachsenden Saat mit einem prophetischen Schriftzitat: «Schwingt die Sichel, denn die Ernte ist reif. Kommt, tretet die Kelter, denn sie ist voll, die Tröge fliessen über. Denn ihre Bosheit ist gross» (Joël 4,13). Was heutigen Hörerinnen und Hörern des Gleichnisses gar nicht (mehr) auffällt, weil sie im Allgemeinen ihre Schrift nicht kennen, ist die Tatsache, dass nicht einfach von Ernte die Rede ist, sondern ein fast apokalyptischer Bezug hergestellt wird: JHWH, Gott selbst, wird «die Sichel schicken» (so wörtlich in Joël 4,13 und Mk 4,29). Joël, eines der jüngsten Prophetenbücher des Alten Testaments, spricht hier vom «Tag JHWHs», der endlich Gerechtigkeit schaffen wird.

Mit Markus im Gespräch

Dass dieser (im Zusammenhang des Saatgleichnisses ziemlich irritierende) Bezug auf den «Tag JHWHs» gut ins Markusevangelium passt, zeigt ein Blick auf Mk 13,26 f.: «Dann wird man den Menschensohn mit grosser Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen. Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels.» Die Königsherrschaft Gottes ist mit dem Kommen Jesu, des Menschensohnes (Mk 2,10.28; 8,31 u. ö.) angebrochen. Der Same ist gesät. Und die Erde hat bereits «von selbst» ihre Frucht gebracht, was natürlich heisst, dass Gott wachsen lässt (vgl. 1  Kor 3,7). Was die Markusgemeinde aber erleben musste, war nicht nur dieses Wachstum, sondern auch Anfeindung und Verfolgung, Krieg und Zerstörung des Tempels. Der Blick auf den Menschensohn des Buches Daniel (Kap. 7) konnte da Verständnishilfe geben: Die Königsherrschaft Gottes kann erst anbrechen, wenn die Herrscher dieser Welt gerichtet sind. So wie Gott wachsen lässt, so ist auch er es, der die Sichel schicken wird. Darauf geht die Hoffnung des Markusevangeliums.

Vielleicht ist uns das Bild vom «Weltenbaum» (vgl. auch Dan 4,7–9.11.18 f.), mit dem Markus das Jesusgleichnis vom Senfkorn enden lässt, sympathischer. Aber letztlich geht es auch hier um Herrschaftskritik (s. o.). Die Königsherrschaft Gottes ist eben nicht von dieser Welt, sondern kommt allein von Gott. Sie ist also in keiner Weise «machbar», weder vom säenden Menschen im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat noch von der Wachstumskraft des Senfkorns. Angesichts dieser Tatsache bleibt nichts zu tun ausser eben wachsam zu sein und die «Zeichen der Zeit» zu erkennen: «Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr (all) das geschehen seht, dass das Ende vor der Tür steht» (Mk 13,28 f.).

Die Frage nach dem «Ende», die uns heutigen Christen in gesicherten Verhältnissen eher Angst macht, war für die durch die Gewaltherrschaft der Römer traumatisierten Markusgemeinden die Frage nach der Erlösung. Das «Ende» von all dem, was sie erleiden mussten, wäre eine Welt gewesen, in der Machtmissbrauch und Unterdrückung keinen Platz mehr haben, weil jede und jeder nur noch dienend vom anderen her denkt (Mk 10,4–44). Dazu gehörte aber glaubendes Verstehen. Markus ist überzeugt, dass das geht, wenn auf Jesus gehört wird: «Durch viele solche Gleichnisse verkündete er ihnen das Wort, so wie sie es aufnehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war» (Mk 4,33 f.).

Literaturtipp

Luise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2005, 149–157.