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Robin Hood und die Dämonen   

Winfried Bader zum Evangelium am 10. Sonntag im Jahreskreis (10.06.): Mk 3,20-35, SKZ 21-22/2012

 

Robin Hood und die Dämonen   

 

«Du sollst nicht stehlen» – das 7. Gebot (nach katholischer Zählung) gilt in allen zivilisierten Gesellschaften als gegeben und einsichtig. Fraglos wird es Kindern so beigebracht und ist in Gesetzestexten und gesellschaftlichen Regeln verankert. Ja – bis da einer kommt wie Robin Hood, dieser Sympathieträger aus dem Sherwood Forest, der zwar stiehlt, aber trotzdem und gerade deswegen von allen gemocht wird. Denn er nimmt den Reichen und gibt den Armen.

Wie nahe Jesu Handeln dieser Robin-Hood-Gesinnung kommt, zeigt das Gleichnis vom Starken, das im Zentrum der heutigen Evangeliumsperikope von der wahren Familie steht: Jesus lernt vom Räuberhauptmann.

Was in den Schriften steht

Die Perikope rund um das Haus gliedert sich in drei Teile:

Teil 1 (Mk 3,20–22) ist geprägt davon, dass drei verschiedene Gruppen von Menschen Jesus aufsuchen. Es strömt «das Volk» zu ihm und verunmöglicht es «ihnen» – gemäss dem Vortext wohl Jesus und die soeben zusammengestellten Zwölf – zu essen (Mk 3,20).

Dann brechen «die Seinigen» auf und wollen Jesus aus dem Verkehr ziehen, weil sie denken, er sei übergeschnappt (Mk 3,21). Sie beurteilen sein Handeln als ausserhalb der Norm und der gewöhnlichen gesellschaftlichen Regeln liegend. Mit Blick auf die prophetischen Schriften stilisiert Markus damit Jesus als verkannten und verfolgten Propheten, wie z. B. Jeremia («Selbst deine Brüder und das Haus deines Vaters handeln treulos an dir; auch sie schreien laut hinter dir her» – Jer 12,6. Im Buch der Weisheit wird der Weise und Gerechte in den Augen der anderen als wahnsinnig beschrieben: «Sein Leben hielten wir für Wahnsinn und sein Ende für ehrlos» – Weish 5,4).

Die Dritten, die kommen, sind die Schriftgelehrten aus Jerusalem. Auch sie finden Jesu Handeln ausserhalb der Norm, interpretieren es aber anders als die Seinigen theologisch-spirituell: «Den Beelzebul hat er» (Mk 3,22). Nach 2 Kön 2,1 ist Beelzebub («Baal der Fliegen») der Stadtgott von Ekron, den Ahab in seiner Krankheit befragen will, jedoch dann von Elija zurechtgewiesen wird, den wahren Gott zu befragen. Der zweite Vorwurf ist: «Mit dem Dämonengebieter wirft er die dämonischen Mächte hinaus» (Mk 3,22).

Teil 2 der Perikope (Mk 3,23–30) ist die Antwort Jesu. Er reagiert und ruft sie, um «ihnen in Gleichnissen zu reden» (Mk 3,23). Zunächst ist es die Doppelparabel von der notwendigen Einheit jeder Herrschaft (Mk 3,23–26),1 dann die Parabel von dem Einbruch in das Haus des Starken (Mk 3,27).2 Die Rede wird abgeschlossen mit dem Gedanken von der Unverzeihlichkeit von Schmähworten gegen den Heiligen Geist.

Teil 3 (Mk 3,31–35) nimmt wie ein Sandwich den Anfang wieder auf. Die Seinigen, nun konkret die Familie, sind angekommen. Jesus nimmt dies zum Anlass, als seine eigentlichen Brüder und Schwestern die zu bezeichnen, die den Willen Gottes tun. Er nimmt damit das Bild aus seiner ersten Parabel über die Einheit der Familie auf und erklärt diese Struktur für überholt.

Was sagen die beiden Gleichnisse in der Mitte dieser Perikope?

Das erste Doppelgleichnis schildert den Zerfall eines Königreiches und einer Familie. Es sind Sozialstrukturen, die ein Gebiet und die dazu gehörenden Menschen umfassen. Für das Zerfallen von Königreichen gab es seit Herodes dem Grossen 4 v. Chr. genügend Beispiele in der aktuellen Zeitgeschichte. Geteilte Reiche sind römische Politik: divide et impere. Das Zerfallen von Reichen durchzieht auch die Geschichte des Ersten Testaments: Der Zerfall des salomonischen Reiches wird als Strafe Gottes gesehen (1 Kön 11,9–13), das Auseinanderfallen von Grossreichen, schildert Daniel (z. B. Dan 2,41). Zu dieser apokalyptischen Schilderung gehört, dass das Reich des Satans dann untergeht.

Das andere Bild ist das der Familie. Zur Zeit des Markus kann man laut Josephus in Palästina etwa 70 wohlhabende Grossfamilien zählen. Sie haben Bestand, wenn sie sich – auch in der Erbfolge – nicht teilen, denn sonst verlieren sie an Grösse und Bedeutung.

Das Gleichnis vergleicht nun diese Sozialstrukturen von Königreich und Familie mit einem Menschen. Der Einzelne ist Abbild der äusseren Machtstrukturen. Das Aussergewöhnliche, Nonkonforme, Kranke und Eingeschränkte gilt dabei als durch eine schlechte Herrschaft hervorgerufen. Es wird auf dämonische Mächte zurückgeführt. Das Beseitigen dieser Strukturen bedeutet den Anfang des Reich Gottes und beweist die Macht Jesu. Er durchbricht den Kreislauf, in dem sich die Armen und Unterdrückten, die Schwachen und Rechtlosen befinden, die ihr eigenes Schicksal als von Dämonen verursacht sehen, gegen die sie machtlos sind.

Mit dem zweiten Gleichnis vom Starken (Mk 3,27) erklärt Jesus, wie seine Dämonenaustreibungen zu verstehen sind. Dem Starken, der gebunden wird, werden «Gefässe» geraubt. Gefässe sind Gerätschaften aller Art, sie sind Bild für Menschen, die wie Sklaven unter der Verfügungsgewalt anderer stehen. Das Bild ist auch positiv bekannt: «Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel» (Jer 18,6). Gefässe in schlechten Händen dagegen sind wie Menschen unter der Macht von Dämonen. Die ungerechte Sozialstruktur, in der Menschen als Sklaven von anderen total abhängig sind, das ist die dämonische Struktur. Den Heiligen Geist zu lästern (Mk 3,29), mit dem Jesus die Dämonen austreibt, ist die einzige unvergebbare Sünde. Dass Jesus die in der Kraft des Heiligen Geistes durchgeführten Exorzismen in einer Art «Robin-Hood-Mentalität» mit einem erfolgreichen Raubüberfall vergleicht, ist die in ihrer Anstössigkeit nicht zu unterschätzende Pointe der Parabel vom Starken.

Mit Markus im Gespräch

Räuberbanden – zusammengesetzt aus Menschen von verarmten Familien –, die gegen die Reichen vorgingen, um zu überleben, waren in den 60er-Jahren in Israel gesellschaftliche Realität. Als ungerecht wurden nicht deren Raubzüge empfunden, sondern die Anhäufung des Reichtums durch die Reichen. Die Jesusüberlieferung hat ihren Ursprung bei den armen Bevölkerungsschichten. So versteht sich die Sympathie für die Haltung der Parabel des Starken, dass Jesus derjenige ist, der die Menschen dem Starken, das ist Satan, raubt, um sie zu befreien. Dem Starken werden zu Recht seine Gefässe entrissen.

Jesu Tätigkeit der Dämonenaustreibung ist wie das Sozialbanditentum eine Reaktion auf Zustände sozialer Desintegration, um das Sozialwesen wieder herzustellen. Sein Handeln hat eine politische Dimension, weil jeder Akt der Menschlichkeit die Macht des Bösen schwächt. Es ist eine existentielle Botschaft, die jede Lebensbiografie befreien will von psychischen Störungen, verursacht durch erlittene Gewalt und Unterdrückung.

Positiv formuliert die markinische Botschaft der Hirte des Hermas (mand 4,5,1): «Wenn du grossmütig bist, wird der Heilige Geist, der in dir wohnt, rein sein. Nicht verfinstert von einem andern bösen Geist, sondern im Geräumigen wohnend, jubelt er und freut sich mit dem Gefäss, in dem er wohnt.»

 

1 Vgl. zur Auslegung dieses Gleichnisses Martin G. Ruf: Zoff bei Beelzebul (Beelzebulgleichnis), in: Ruben Zimmermann: Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2007, 278–286.

2 Vgl. zur Auslegung dieses Gleichnisses Annette Merz: Jesus lernt vom Räuberhauptmann (Das Wort vom Starken), in: Ruben Zimmermann: Kompendium der Gleichnisse Jesu. Gütersloh 2007, 287–296.