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Der Weinstock und die Reben   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 5. Sonntag der Osterzeit: Joh 15,1–8

 

Jesu Bildrede vom Weinstock und den Reben wird zwischen Ostern und Pfingsten, zwischen der Auferstehung Jesu und dem Herabkommen des Geistes auf die Jünger gelesen. Im jüdischen Festtagszyklus entspricht dies der Zeit zwischen Pessach, dem Erinnerungsfest an den Auszug aus Ägypten, und Schawuot. Wie viele jüdische Feiertage hat Schawuot einen doppelten Charakter, nämlich einen «agrarischen» und einen «historischen »: Schawuot ist einerseits das Fest der Offenbarung am Sinai und andrerseits das Fest der Erstlingsfrüchte, die im Tempel dargebracht wurden. Zu diesen Erstlingsfrüchten gehört auch die Traube, deren Kultivierung im Nahen Osten von grosser Bedeutung war (Dtn 8,8). Damit steht Joh 15 in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht von Schöpfung, Offenbarung und Verheissung.

Was in den Schriften steht

Das Bild vom Weinstock, das Jesus in Joh 15 braucht, steht ganz und gar in der Tradition der hebräischen Bibel. Das Bild des Weinstocks wird in den Büchern der Bibel allerdings nicht eindeutig verwendet, vielmehr lassen sich mehrere Metaphernstränge ausmachen. Die Gleichnisrede vom Weinstock aus Joh 15 weckt vor dem Hintergrund der hebräischen Bibel denn auch vielfältige Assoziationen, und es wäre wohl verfehlt, das Bild auf eine einzige Bedeutungsebene zu reduzieren. So kann der Weinstock – wie in Joh 15 – individuelle Persönlichkeiten bezeichnen. In Ps 128,3 beispielsweise wird die Frau des Gerechten mit einem Weinstock verglichen: «Wie ein fruchtbarer Weinstock ist deine Frau drinnen in deinem Haus. Wie junge Ölbäume sind deine Kinder rings um deinen Tisch» (Ps 128,3). In der Weisheitsliteratur kann der Weinstock für die Weisheit – für die Thora, deren Herabkommen an Pfingsten/ Schawuot gefeiert wird – stehen: «Ich [= die Weisheit] liess wie ein Weinstock Schönes hervorspriessen, meine Blüten wurden zu Frucht von Pracht und Reichtum » (Sir 24,17). Weinstock und Weinbauer beschreiben auch das Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel. Bei Johannes wird der aus Israel stammende Jesus zum Weinstock. In den Psalmen wird das Bild von Weinstock und Winzer folgendermassen ausgedrückt: «Du hobst in Ägypten einen Weinstock aus, du hast Völker vertrieben, ihn aber eingepflanzt » (Ps 80,9).

Gott wird dabei als sorgender Gärtner beschrieben, der sich liebevoll um seine Pflanzung kümmert, so etwa im berühmten «Weinberglied» bei Jesaja: «An jenem Tag gibt es einen prächtigen Weinberg. Besingt ihn in einem Lied! Ich, der Herr, bin sein Wächter, immer wieder bewässere ich ihn» (Jes 27,2). Dieser Weinberg Israel kann jedoch auch – vorübergehend – vertrocknet und unfruchtbar werden: «Will ich bei ihnen ernten – Spruch des Herrn –, so sind keine Trauben am Weinstock, keine Feigen am Feigenbaum, und das Laub ist verwelkt» (Jer 8,13, vgl. auch Ez 15). Diese Unfruchtbarkeit geht jedoch vorüber, denn der fruchttragende blühende Weinstock wird bereits bei den grossen Propheten zu einem Bild der Verheissung: «In künftigen Tagen schlägt Jakob wieder Wurzel, Israel blüht und gedeiht, und der Erdkreis füllt sich mit Früchten» (Jes 27,6). Der Weinstock wird dabei an verschiedenen Stellen der hebräischen Bibel zu einem Bild des messianischen Friedens: «Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen (…). Jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und niemand schreckt ihn auf» (Micha 4,4, siehe auch 1 Reg 5,5, siehe auch Sach 3,10, 1 Makk 14,10).

Dieser paradiesische Charakter des Weinstockes wird besonders in der sogenannten «pseudepigraphischen» Literatur, d. h. in frühjüdischen (und frühchristlichen) Texten, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden, noch weiter ausgefaltet. Dem Verfasser des syrischen Baruchbuches, der wohl Ende des ersten Jahrhunderts schrieb, dient der Weinstock als Sinnbild des hereinbrechenden Paradieses, das schlaraffische Züge annimmt: «An einem Weinstock werden tausend Reben sein, und eine Rebe trägt dann tausend Trauben, und eine Traube tausend Beeren, und eine Beere gibt ein Kor voll Wein. Und die, die Hunger litten, sollen fröhlich sein…» (syrBar 29,5). Im äthiopischen Henochbuch trägt sogar einer der beiden Paradiesbäume Weintrauben (äthHen 32,4)! G anz in diesem Sinne wird im Hohen Lied – das je nachdem als Metapher für Gott und Israel bzw. für Gott und die Kirche gelesen wird – die Liebe mit dem Trinken von Wein verglichen (Cant 5,1). Der doppelte Aspekt von Schawuot, der naturbezogene und der Mensch-Gott-bezogene, erscheint auch in folgendem «Weinvers» aus dem Hohen Lied: «Komm mein Geliebter, wandern wir auf das Land, schlafen wir in den Dörfern. Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen und sehen, ob der Weinstock schon treibt, ob die Rebenblüte sich öffnet …» (Cant 7,13).

Die Bilder, die sich in der hebräischen Bibel und ihr verwandten Literatur um die Metapher Weinberg, Weinstock, Traube ranken, haben – trotz aller Unterschiedlichkeit – eines gemeinsam: Sie tragen das Potenzial zu paradiesischer Fülle – auch über Dürrezeiten hinweg.

Mit Johannes im Gespräch

In dieser harmonischen Bildwelt stören allerdings die abgeschnittenen Reben, die ausgerissen und verbrannt werden (Joh 15,2. 6). Gerade vor dem Hintergrund der eben aufgezeigten Paradiesmetaphorik ist dieses Ins- Feuer-geworfen-Werden keine angenehme Vorstellung. Der johanneischen Gemeinde ging es möglicherweise wirklich darum, sich von «unfruchtbaren» Mitgliedern zu trennen. Doch dürfen wir, die wir in einer anderen historischen Situation als Johannes leben, den Text nicht auch anders lesen? Wirft nicht die oben aufgezeigte biblische und dem Johannes zeitgenössische «Weinstock-Literatur» ein etwas milderndes Licht auch auf die abgeschnittenen Reben? Der Text bei Johannes steht ja nicht isoliert da und soll wohl auch nicht isoliert gelesen werden. So wird bei Jesaja auch Folgendes über den Weinstock und dessen Hüter gesagt:

«Fände ich [= Gott] Dornen und Disteln darin [= im Weinberg], ich würde sie alle bekämpfen, ich würde sie alle zusammen verbrennen, es sei denn, man sucht bei mir Schutz und schliesst mit mir Frieden, ja Frieden mit mir» (Jes 27,2–5). Anders als bei Johannes ist bei Jesaja dieses Abschneiden der Reben nicht endgültig. Und noch etwas: Weinstock und Reben sind aufeinander angewiesen: Die Reben verdorren ohne den Stock und die Wurzeln. Die Gleichnisrede vom Weinstock kann aber auch umgekehrt gelesen werden: So wie die Reben den Weinstock brauchen, um zu wachsen und Trauben tragen zu können, braucht auch der Weinstock die Zweige, an denen die Trauben hängen. Ohne die fruchttragenden Reben wäre auch der Weinstock unfruchtbar. Die Beziehung zwischen Gott, Jesus und den Menschen ist daher nicht nur einseitig von Gott her geprägt: Damit der Weinstock Frucht tragen kann, braucht es viele und vielfältige starke, vitale Reben.