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Unvollendete Befreiung   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 5. Fastensonntag: Joh 11,1–45, SKZ 10/2012

 

Es ist bald überstanden: Die Fastenzeit neigt sich ihrem Ende zu: Joh 11 leitet denn auch zur Passion Jesu über (ab Joh 12), und die zentralen Themen von Passion und Ostern spielen bereits in unserer Perikope eine wichtige Rolle. Neben diesen «innertestamentlichen» Bezügen stellt Johannes auch eine Parallele zwischen jüdischer und christlicher Erwartung her, indem er die Erweckung des Lazarus zwischen zwei jüdischen Festtagen einbettet: Nämlich einerseits dem «Tempelweihfest», Chanukka (Joh 10,22), das die Wiedereinweihung des Tempels nach der Schändung durch den hellenistischen König Antiochus IV. feiert, und andrerseits dem Pessachfest (Joh 11,55), das an den Auszug aus Ägypten erinnert. Die Nähe zu Pessach und Chanukka weist auf den befreienden Charakter der Fastenzeit und des Osterfestes hin.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

In unserem Text geht es zunächst um die Themen, die dann auch das Ostergeschehen bestimmen, nämlich um den Tod und um die Auferstehung. Neben diesem Hauptthema gibt es jedoch auch «Nebenthemen», auf die ich zunächst kurz eingehen will. Ein wichtiges Thema unseres Textes ist die Liebe: Auffällig oft weist Johannes in unserer Passage darauf hin, dass Jesus die drei Geschwister Lazarus, Maria und Marta liebt (vgl. Joh 11,3; 11,5; Joh 11,36). Der Hinweis darauf, dass es sich um dieselbe Maria handelt, die Jesus mit kostbarem Öl salbte, verstärkt dieses Liebesmotiv (Joh 11,2, vgl. Joh 12,3). Jesus und die drei Geschwister bilden offenbar eine Gemeinschaft, die auf gegenseitigem Respekt und Liebe beruht. Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Frauen und Männer gleichermassen an einer solchen Gemeinschaft teilnehmen!

Maria und Martha erscheinen auch im Lukasevangelium: In Kapitel 10,38–42 wird erzählt, dass Jesus im Haus der beiden Schwestern einkehrt. Während Marta sich im Haushalt zu schaffen macht, hört Maria Jesus zu. Auf die Klage Martas, ihre Schwester helfe ihr nicht, ermahnt Jesus Marta, dass Maria «das gute Teil» (Lk 10,42) gewählt habe. Bei Johannes scheinen die beiden Schwestern die Rollen getauscht zu haben: Nun ist es Marta, die sogleich die Nähe Jesu sucht, während Maria zu Hause bei den Trauergästen bleibt (Joh 11,20–35). Im Gesamtkontext der Evangelien bedeutet dies wohl, dass beide Wege nötig sind, der «aktiv-handelnde» und der «kontemplativ-glaubende»: Marta und Maria können nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Ein weiteres «Nebenthema» unserer Passage ist das Missverständnis: Die erzählerische Struktur unseres Textes besteht in erster Linie aus Gesprächen: Zunächst spricht Jesus zu den Jüngern, danach mit Marta und Maria sowie mit seinem Vater. Abgesehen von den Worten, die Jesus an seinen Vater richtet, sind diese Gespräche jedoch von Missverständnissen geprägt: Die Jünger verstehen nicht, dass Jesus mit «Schlaf» den Tod meint (Joh 11,13), Marta versteht nicht, dass Jesus nicht von der endzeitlichen Auferstehung, sondern von einer unmittelbar bevorstehenden Erweckung spricht (Joh 11,24), Maria schliesslich versteht nicht, dass Jesus nicht nur Kranke heilen, sondern auch Tote zu neuem Leben erwecken kann (Joh 11,32). Diese Missverständnisse verhindern jedoch nicht eine liebe- und respektvolle Beziehung wie sie zwischen Jesus, Lazarus, Maria und Marta besteht. Und sie verhindert auch nicht eine geglückte Beziehung zwischen Gott und Mensch: Auch der unvollkommene Mensch darf Gottes Wirken erfahren.

Unsere Perikope steht nicht nur im Austausch mit den anderen neutestamentlichen Schriften, sondern greift auch auf die frühjüdische Ideen- und Textwelt zurück: Der Glaube an die individuelle Auferstehung der Toten ist in den späten Schriften der Bibel fest verankert (2 Makk 7; Dan 12). So bildet sie auch den zweiten Segensspruch des Achtzehngebetes, eines zentralen Gebetes des Judentums, das von praktizierenden Jüdinnen und Juden bis heute drei Mal täglich gebetet wird. Die früheren biblischen Schriften bereiten diesen Glauben auf eine Auferstehung der Toten vor, indem sie beispielsweise die Hoffnung auf eine nationale Wiedergeburt kennen (z. B. Ez 37). Martas Worte in Vers 24 widerspiegeln diese Auffassungen, die das Christentum aus dem Judentum übernommen hat.

Unser Text weist Ähnlichkeiten zum Elia-Zyklus auf: Gemäss 1 Kön 17,17–24 erweckt Elias den toten Sohn der Witwe aus Zarpat, wo dieser Zuflucht gefunden hatte, zu neuem Leben: «Und er [Elia] legte sich auf das Kind dreimal und rief den Herrn an und sprach: ‹Herr, mein Gott, lass sein Leben in dies Kind zurückkehren!› Und der Herr erhörte die Stimme Elias, und das Leben kehret in das Kind zurück, und es wurde wieder lebendig» (1 Kön 17,21 f.). Die Erzählungen um Elias werden in der jüdischen Liturgie am Sabbat vor Pessach, dem sogenannten «grossen Sabbat», gelesen. Elia gilt im Judentum als Vorläufer des Messias, dem auch während des Pessach-Seders eine Rolle zukommt.

Nicht nur die zeitliche Nähe zum Pessachfest, die Anspielung auf Elia, auch verschiedene kleine Assoziationen betonen den befreienden Charakter, den unsere Passage «ausstrahlt»: So spielen die Worte, die Jesus an Lazarus richtet «Komm heraus» (Joh 11,43), auf die «Jezi’at Mizrajim», das Herauskommen der Juden aus Ägypten, an. Der Name «Lazarus», die griechische Form des hebräischen «El’azar» oder «Eliezer» («Gott hat geholfen») klingt an die Exodusgeschichte an: Die Söhne der beiden grossen Führergestalten, die die Israeliten durch die Wüste geführt haben, Moses und Aaron, trugen diesen Namen: «… und der andere hiess Eliezer, denn [= Moses] sprach: ‹Der Gott meines Vaters ist meine Hilfe gewesen und hat mich errettet vor dem Schwert des Pharao›» (Ex 18,4, zum Sohn Aarons vgl. Ex 6,25). Das stützende «Gerüst» hinter unserem Text ist demnach der Auszug aus Ägypten.

Im Gespräch mit Johannes

Joh 11 bildet den «Auftakt» zur Passion und Auferstehung Jesu. Die Erzählung über die Auferweckung des Lazarus weist zahlreiche Parallelen zur Auferstehung Jesu auf: So werden sowohl Jesus als auch Lazarus in einer Art Höhle beigesetzt, die durch einen Stein verschlossen werden konnte. Beide wurden in Grabtücher und in ein Schweisstuch gehüllt. Und am Grab von beiden waren Frauen, darunter eine Maria, präsent.

Neben den bedeutenden Unterschieden, die natürlich zwischen den beiden Erzählungen bestehen, ist mir ein Detail aufgefallen: Jesus lässt die Grab- und Schweisstücher in der Grabhöhle zurück, während Lazarus mit diesen aus dem Grab hervortritt. Gerade dieser auf den ersten Blick völlig unbedeutende Unterschied ist jedoch auffallend: Unsere Passage endet mit der Aufforderung Jesu an die Anwesenden, Lazarus die Grabtücher abzunehmen. Wir erfahren nicht, ob diese das auch tun. Die Erzählung schliesst dadurch mit einer Lücke: Das Befreiungswerk der Auferstehung ist noch nicht abgeschlossen, es bedarf der Mithilfe aller Anwesenden, dieses zu vollenden. Darf dies als Einladung verstanden werden, hier in dieser Welt – und vielleicht besonders als Vorbereitung auf das Ostergeschehen – dem Lazarus zu helfen, sich vom Tod zu befreien und seine Auferstehung mit unserer Hilfe zu vollenden?