Wir beraten

Sehen und Hören   

Hanspeter Ernst zum Evangelium an Weihnachten am Morgen: Lk 2,15–20, SKZ 49/2011

 

Da haben die Liturgiker den Biblikern aber ein schönes Ei gelegt: Sie unterteilen die Geschichte der Geburt Jesu so, dass in der Mette nur der erste Teil, im Gottesdienst vom Heiligtag der zweite Teil gelesen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, welche Argumente für eine solche Aufteilung ins Feld geführt werden können, ausser vielleicht: Wenn die Menschen schon mal in die Kirche kommen, dann sollen sie nicht mit allzu langen biblischen Texten kopfscheu gemacht werden. Oder vielleicht ist es Mitleid: Es ist ja Mitternacht. Man hat gegessen, getrunken, gefeiert. Da ist es schon eine Zumutung, eine so lange Geschichte vorzutragen. Und am Morgen erinnern sich ja alle an den ersten Teil der Geschichte, deshalb lässt sich auf ihn verzichten. Wie wenn alle Gottesdienstbesucher/innen in der Mette gewesen wären. Nein. So nicht. Die Geburtsgeschichte Jesu, die Lukas schreibt, ist eine durchkomponierte Geschichte. Es ist eine kunstvoll erzählte Geschichte. Es ist ein Stück Weltliteratur, auf das wir stolz sein dürfen. Und es ist ein theologisches Meisterwerk. Die Botschaft, die es verkündet, soll so ansteckend sein, dass sie uns verändert. Halten wir fest: Die Geburtsgeschichte Jesu hat drei Teile. Jeder ist eingeleitet mit dem Wort: «Es geschah» egeneto (Lk 2,1.6.15). Während das erste «es geschah» mit dem «Dogma», der Verordnung (2,1) des Kaisers Augustus beginnt, dass sich die bewohnte Welt schlechthin (oikoumene) einzuschreiben habe (man beachte die Wiederholung des Wortes einschreiben), der Kaiser also alle gehen macht, folgt beim zweiten «es geschah» die Geburt Jesu und die Erscheinung der Engel, die den Hirten auf dem Felde die frohe Botschaft verkünden, um schliesslich mit dem dritten «es geschah» zu enden, dass die Hirten sich aufmachten, «um zu sehen diese Rede, die geschehen ist, die der Herr uns kundgemacht hat» (2,15). Während also das erste «es geschah» die Ebene der Weltpolitik und Weltgeschichte betrifft, geht es beim zweiten «es geschah» um die Geschichte Gottes mit seinem Volk, um Bundesgeschichte. Der Inhalt dieser Geschichte ist die Geburt Jesu und die Mitteilung an die Hirten, was es mit dieser Geburt auf sich hat. Beim dritten «es geschah» wird deutlich, dass die Bundesgeschichte ein dialogisches Geschehen ist: Was die Hirten (und die hier sind Schafhirten gemeint) vom Himmel her gehört haben, verkündigen sie auf Erden. Nur wenn die ganze Geschichte gelesen wird, beginnt der Widerspruch zwischen erstem und letztem Teil zu schreien: Während der Kaiser in Rom mit seinem Dogma, das keinen Widerspruch duldet, die für seine weltbeherrschende Macht notwendigen Einkünfte mit der Eintragung in Steuerlisten sichert und deshalb alle gehen macht, gehen die Hirten aus eigenem Antrieb. Während der Kaiser in Rom sein Volk zählt, bekommt hier das Überzählige, das nicht Vorgesehene, eine die Mauern der Weltmacht sprengende Wirkung.

Doch halt: Volk Gottes zählt man nicht. Als David das Volk zählen liess, wurde er von Gott bestraft … Wer also nur den dritten Teil liest, hat eine Verkündigung ohne Inhalt. Fazit: Man lese die ganze Geschichte.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Hirten sind die Adressaten der Botschaft der Engel. Um der Falle der Hirtenromantik zu entgehen, ist ein Blick in die Hebräische Bibel von Vorteil. David wird von den Schafen weggeholt und zum König gesalbt (1 Sam 16); Mose hütet die Schafe des Schwiegervaters Jitro (Ex 3,1). In den Psalmen wird die Obhut und Sorge Gottes für die Seinen oft mit dem Hirtenmotiv umschrieben (ein besonders schönes Beispiel dafür ist Ps 23). Menschen aber, die sich selbst gerne als Hirten bezeichnen, werden getadelt, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllen (z. B. Ez 34). Die metaphorische Bedeutung des Wortes macht klar, dass es sich um Menschen mit einer besonderen Verantwortung für das Volk handelt. Mag sein, dass noch andere Konnotationen mitschwingen. Der Beruf selbst war ja nicht ganz anspruchslos. Es ist von Bedeutung, dass hier von Hirten und nicht zum Beispiel von Soldaten die Rede ist. Es geht um Menschen am unteren Ende der sozialen Skala. Es sind Hirten, die sich aufmachen, um zu «sehen diese Rede, die geschehen ist, die der Herr uns kundgemacht hat» (2,15).1 Dies entspricht dem Aufruf des Engels: «Sieh (idou), ich verkündige euch …» (2,10). Bezeichnend daran, dass es nicht «hört, ich verkündige euch» heisst. Nein, es geht zunächst um das Sehen. Offenbar muss man den Blick in die richtige Richtung wenden, denn wer nicht hinschaut, nicht hinsieht, wird nicht hinhören. Aber nun geht es darum, dass sie das Gehörte, das Wort, sehen. Sie tun das, was Mose tat, als er den Dornbusch brennen sah, hingehen und sehen. Sie tun es stellvertretend für das ganze Volk, weil ihnen die frohe Botschaft mitgeteilt wird, «die allem Volke widerfahren ist» (2,10). Sie, diese Schafhirten, verkündigen sehend (sehend aber machten sie bekannt die Rede, geredet zu ihnen über dieses Kind 2,17). Bezeichnenderweise wird hier von «Kind» gesprochen, während sonst vom Sohn, ihrem Erstgeborenen (2,7) oder vom Säugling (2,12.16) die Rede ist. Der Säugling ist der Messias – einen grösseren Kontrast zum Kaiser kann es nicht geben. Aber das Wort, das verkündigt wird, das ist das Wort vom Kind (vgl. Jes 9,6). Es erfüllt alle mit Staunen. Maria bewahrt die Worte in ihrem Herzen. Die Hirten aber gehen, loben Gott und preisen ihn für all das, was sie gehört und gesehen hatten, wie es ihnen gesagt worden war.

Mit Lukas im Gespräch

Was wäre geschehen, wenn die Hirten nicht gesehen und gehört hätten? Was, wenn sie sich nicht auf den Weg gemacht hätten? Dann wäre die Geschichte von der Geburt des Kindes, dann wäre der offene Himmel, dann wäre die frohe Botschaft, die Freude nie weitergetragen worden. Das muss nicht heissen, dass es kein Weihnachtsfest gäbe, denn das Fest, wie es heute gefeiert wird, kommt ganz gut ohne Inhalt zurecht – ein Lichterfest à la sol invictus. Aber auf der Strecke wäre ein Geschehen geblieben, das die Menschen zu verändern mag, eine Zusage Gottes, die ohne Menschen, ohne Männer und Frauen und Kinder kein Gegenüber hätte. Gott ist auf die Menschen angewiesen. Weihnachten geschieht nicht ohne uns.

Einen Aspekt möchte ich besonders hervorheben: Hören und Sehen gehören zusammen, wie Sehen und Hören zusammengehören. In diesem Punkt könnten die Hirten Vorbilder sein. Wie vieles übersehen wir heute ganz selbstverständlich. Wir schauen nicht mehr hin. Wer nicht hinschaut, weiss von nichts und fühlt sich nicht verantwortlich. Denn wie soll man Verantwortung übernehmen, wenn man nicht weiss. Das Nicht-Hinschauen ist eine Strategie. Sie ermöglicht es, dass vieles unsichtbar gemacht wird. Zwar gibt es so und so viele Drogenabhängige. Aber wir wollen sie nicht sehen, deshalb müssen sie unsichtbar werden. So aber können Hirten nicht handeln: Denn ein Hirte muss seine Herde im Auge behalten, er muss schauen, ob eines der Tiere krank ist. Tut er dies nicht, dann hat das für seine Herde und für ihn verheerende Konsequenzen. Man verdrängt Wirklichkeit, indem sie nicht zur Kenntnis genommen wird. Aber diese Verdrängung braucht auch Kraft. Es ist daher mit Sicherheit kein Zufall, dass die ersten Zeugen der Geburt Jesu Hirten sind. Sie sehen und hören, hören und handeln.