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Talent zur Provokation   

Zum Evangelium am 33. Sonntag im Jahreskreis (13.11. 2011, Sonntag der Völker): Mt 25,14–30 oder 25,14–15.19–21, SKZ 44(2011

«Mich interessiert nicht, wie die Wirtschaftskrise überwunden wird (…). Unser Job ist es, damit Geld zu verdienen.» Mit Sätzen wie diesen präsentierte sich der Aktienhändler Alessio Rastani in einem Interview und wurde zum Gesicht des raffgierigen Kapitalismus. Würde er nicht auch gut in unser Gleichnis passen?

Mit Matthäus im Gespräch (1)

Die Kurzversion der Leseordnung (Verse 14–15 und 19–21) spricht dafür: Ein reicher Mann geht auf Reisen und vertraut sein gewaltiges Vermögen seinen Dienern an. Als er zurückkehrt, hat der Diener, der fünf Talente Silbergeld bekommen hat, diesen Betrag verdoppelt. Er wird gelobt und befördert. Keine Nachfrage, auf welche Weise die 100%-Rendite möglich war. Unser Job ist es, Geld zu verdienen. Mehr interessiert nicht. Weiss man, welch ungeheure Summe die fünf Talente Silbergeld sind – ein Tagelöhner der damaligen Zeit müsste dafür 100 Jahre arbeiten – klingt das Lob für ihn nur noch zynisch: «Du bist im Kleinen ein treuer Verwalter gewesen, ich will dir eine grosse Aufgabe übertragen» (25,23). Die Finanzwirtschaft hat sich völlig von der Realität abgekoppelt.

           Traditionell ist das Gleichnis aber nicht ökonomisch ausgelegt worden – gefördert durch die Mehrdeutigkeit des Wortes «Talent». Der Begriff aus dem antiken Münzsystem wurde als Bezeichnung menschlicher Begabungen verstanden und das hiess: Jedem Menschen sind von Gott Begabungen anvertraut, die wir nutzen und vermehren sollen – wie die ersten beiden Diener, die ihre Talente verdoppeln, keineswegs aber wie der Dritte, der sein einziges Talent aus Angst versteckt. Richard Rohr hat die Geschichte als Kind nicht leiden können: «Am ersten Schultag pflegten uns die guten Schwestern erst einmal diesen Text vorzulesen. Und dann hat der Priester eine Predigt darüber gehalten und uns ermahnt, gute und fleissige Schüler zu sein.»1

           Im Kontext Lateinamerikas mit der Option für die Armen wurde das Gleichnis ganz anders ausgelegt. Da ist gerade der dritte Diener der Held, denn er widersetzt sich dem Herrn und dem System, das er verkörpert. Er entlarvt beide: «Du erntest, wo du nicht gesät hast» (25,24). Die geforderten Profite sind nur möglich, indem andere dafür ausgebeutet werden. Dem verweigert sich der Diener und ist bereit, für seinen Widerstand die Konsequenzen zu tragen. Das Gleichnis steht deswegen bei Mt direkt vor der Passionsgeschichte Jesu, dessen Schicksal im dritten Diener abgebildet ist. Schottroff verknüpft das Gleichnis mit der anschliessenden Rede vom Weltgericht (Mt 25,31–46). Der dritte Diener gehört zu denen, die den Menschensohn fragen: «Wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben?» Die Antwort: Bei deinem Verhalten im Gleichnis.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Der Herr weist den dritten Diener darauf hin, dass er das Geld wenigstens auf die Bank hätte bringen können, um Zinsen zu bekommen. Die Tora ist dem Zinssystem gegenüber sehr kritisch. Ex 22,24 wendet sich gegen Wucherzinsen: «Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern.» Dtn 23,20 verbietet das Zinsnehmen ganz: «Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen nimmt.» Allerdings gilt das Zinsverbot nicht gegenüber Ausländern (23,21). In neutestamentlicher Zeit herrschte im Judentum wahrscheinlich ein Zinsverbot, das auch im Christentum lange fortwirkte. Auch in der nichtjüdischen Welt war das Zinssystem vielfach schlecht angesehen. Die Tora stellt ihm Gottes Mitleid mit den Opfern (Ex 22,26) und den Segen, den eine Ökonomie ohne Zinsen bedeutet (Dtn 23,21), entgegen.

           Der Talmudtraktat Baba Mezia 42a diskutiert verschiedene Weisen des fahrlässigen bzw. nicht fahrlässigen Aufbewahrens von anvertrautem Geld. Es geht darum, wann jemand beim Verlust dieses Geldes ersatzpflichtig ist. Die Art der Aufbewahrung des dritten Dieners im Gleichnis, das Verstecken in der Erde, gilt als sorgfältig. Rabbi Schemuel sagt: «Für Geld gibt es keine andere Verwahrung als in der Erde.»

           Der dritte Diener ist für jüdische Ohren also durchaus ein Sympathieträger. Das Gleichnis erzählt allerdings keinerlei Details darüber, wie die beiden ersten Diener ihr Geld verdoppelt haben. Vor allem bleibt der Zeitraum unklar. Ob Rücksichtslosigkeit und Ausbeutung im Spiel sind, ist offen. Spricht die Höhe des Profits dafür? Josephus Flavius berichtet über ein betrügerisches Ölgeschäft von Johannes von Gischala während des Aufstandes gegen die Römer, der damit einen achtfachen Profit machte (Bellum Iudaicum 2. Buch, 21. Kapitel). Sozialgeschichtliche Studien zeigen, dass Kapitalerträge aus Geldverleih in der Antike von bis zu 60 Prozent möglich waren, in der Regel aber unter 15 Prozent blieben.2

           Der reiche Mann im Gleichnis begründet auf der anderen Seite seine Verurteilung des dritten Dieners mit einer sprichwörtlichen Aussage: «Wer hat, dem wird gegeben» (Mt 25,29) und nimmt damit Spr 11,24 auf.

Mit Matthäus im Gespräch (2)

Das Gleichnis ist von Spannungen geprägt. Der dritte Diener ist der Sympathieträger. Die gesamte Erzähldynamik spricht aber für den Herrn. Seine Position setzt sich durch, obwohl sein Verhalten moralisch zweifelhaft ist. Die Evangelien überliefern Gleichnisse mit «unmoralischen Helden» (z. B. Lk 16,1–8, Mt 13,44), die zumuten, aus anstössigen Beispielen gleichwohl zu lernen. Der Kontext anderer Gleichnisse legt nahe, den Rechenschaft verlangenden Herrn als Bild für Gott bzw. Christus zu sehen.

           Ist die spannungsvolle Offenheit des Gleichnisses vielleicht Absicht? Dafür spricht die ungeheure Erhöhung der Geldsummen im Vergleich des Mt- und des Lk-Evangeliums (19,12–27): 1 Talent = 60 Minen. So wird das Gleichnis wirklich aus der konkreten Realität herausgenommen. Das schafft eine produktive Leerstelle, die die Vielfalt von Auslegungen anregt. Auch im Text selber wird viel geredet und gedeutet. Mt 25,14–30 erzählt wenig Details über die Ereignisse und gibt dem Besprechen und Kommentieren grossen Raum. Das Hauptaugenmerk liegt auf der kontroversen Bewertung. Ist das Gleichnis eine provokative Anregung für die Auseinandersetzung? Eine Gesprächsschule? Der Vergleich zwischen der traditionell westlichen und der befreiungstheologischen Auslegung zeigt, wie entscheidend der soziale Kontext für die Auseinandersetzung ist. Damit ist das Gleichnis als Evangelium für den Sonntag der Völker gut gewählt. Bei Allesio Rastani hat sich im Nachhinein erwiesen, dass er gar kein professioneller Aktienhändler ist, sondern sein Auftreten eine Provokation war (mit seiner Selbstinszenierung im Zentrum). Seine Provokation hat sich als produktiv für die Debatte über unser Wirtschaftssystem erwiesen, die dringend weitergeführt werden muss.

Peter Zürn

 

1 Zitiert nach Michael Fricke: Wer ist der Held des Gleichnisses? Kontextuelle Lesarten des Gleichnisses von den Talenten in: Bibel und Kirche 63 (2008), Nr. 2, 76–80, hier 76.

2 Nach dem Kompendium der Gleichnisse Jesu. Hrsg. von Ruben Zimmermann. Gütersloh 2007, 244.