Wir beraten

Die Hauptpfeiler des Glaubens   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 30. Sonntag im Jahreskreis: Mt 22,34–40, SKZ 41/2011

Im jüdischen Festzyklus befinden wir uns in den Tagen von Rosch Haschana, dem Neujahrstag, und Yom Kippur, dem Versöhnungstag. Der Neujahrstag ist auch der Gerichtstag: Die Zeit zwischen Neujahr und Versöhnungstag dient daher der Besinnung der Menschen auf ihre Taten im vergangenen Jahr, für welche sie sich vor Gott verantworten müssen. In diese kritische Zeit fällt die Lektüre unseres Textes, in dem es um die Hauptpfeiler des Glaubens geht: um die Gottesliebe und die Nächstenliebe. In den Tagen um den Gerichts- und den Versöhnungstag soll der Mensch speziell an dieses tragende Fundament der Religion erinnert werden.

Das Gebot der Nächstenliebe gilt allgemein zusammen mit der Aufforderung, seine Feinde zu lieben, als Quintessenz des Christentums. Die beiden Gebote stehen in Matthäus 5,43 f. unmittelbar nebeneinander, sodass die Feindesliebe als Erweiterung der Nächstenliebe verstanden werden kann. Auf der anderen Seite wurde und wird dem Christentum immer wieder vorgeworfen, dass es gerade durch diese Gebote den Menschen überfordere.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Nicht nur die Gottesliebe, sondern auch die Nächstenliebe hat ihre Wurzeln im Judentum: Jesus führt ja in unserer Passage zwei Zitate aus der hebräischen Bibel an, um die Gottes- und Nächstenliebe zu begründen. Trotz dieser eindeutigen Verankerung sind und waren die Bemühungen von christlichen Exegeten vielfältig, gerade nicht diese Einbettung der Nächstenliebe in ihren jüdischen Kontext, sondern umgekehrt die Einzigartigkeit des jesuanischen Doppelgebotes hervorzuheben. Doch wird diese Konzentration auf die «Einzigartigkeit» unserem Text gerecht?

Ein Blick in die hebräische Bibel und in die zwischentestamentliche sowie die rabbinische Literatur weist darauf hin, dass das Doppelgebot aus Mt 22, 34–40 dort bestens verankert ist! So ist Dtn 6,4 f., das sogenannte «Höre Israel», eines der Hauptgebete des Judentums, das täglich drei Mal gebetet wird. Auch die Nächstenliebe, auf die ich mich im Folgenden besonders konzentrieren möchte, erscheint in der jüdischen Literatur immer wieder in verschiedenen Formulierungen. Die jüdische Tradition versteht unter dem «Nächsten» – ähnlich wie die christliche – sowohl den Angehörigen der eigenen Gemeinschaft als auch allgemein den Menschen, dem man begegnet. So steht in Exodus 22,20–26, der Lesung aus der hebräischen Bibel zum heutigen Sonntag: «Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken. Ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.» Ein jüdischer «Partikularismus» kann nicht gegen einen christlichen «Universalismus» ausgespielt werden: Beide Religionen kennen sowohl die partikularistische als auch die universalistische Auslegung.

«Lieben» wird sowohl von Juden als auch von Christen nicht als Gefühl, sondern als ethisches Handeln verstanden. Bereits im Buch Levitikus fasst das Gebot der Nächstenliebe die vorangehenden Anweisungen zu gerechtem Handeln im täglichen Leben zusammen (Lev 19,1–18). Der Targum Neofiti zu Lev 19,18 – eine antike aramäische Übersetzung des Pentateuch – legt das Gebot der Nächstenliebe im Sinne der «Goldenen Regel» aus: «Liebe deinen Nächsten, das heisst, was dir selber verhasst ist, füge ihm auch nicht zu.»

Philo, ein griechischsprachiger jüdischer Intellektueller aus der ägyptischen Metropole Alexandrien, formulierte das Doppelgebot inhaltlich ähnlich wie Matthäus, ohne allerdings aus der Bibel zu zitieren: «Und es gibt gleichsam zwei Grundlehren, denen die zahlreichen Einzellehren und Sätze untergeordnet sind: in Bezug auf Gott die Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf die Menschen die Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeit» (De specialibis legibus 2,63). Besonders bekannt ist das Dictum Hillels, eines jüdischen Gelehrten, der um die Zeitenwende gelebt hat. Anders als sein Kollege und Konkurrent Schammai akzeptiert Hillel einen Proselyten, der eine möglichst kurze Zusammenfassung der gesamten Tora verlangt: «Einmal kam ein Heide zu Schammai; er sprach zu ihm: ‹Nimm mich als Proselyt auf unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Beine stehen kann.› Er [= Schammai] stiess ihn mit dem Baumass, das er in der Hand hatte, davon. Er ging zu Hillel. Dieser nahm ihn als Proselyten auf. Er sprach zu ihm: Was dir unlieb ist, tue keinem anderen. Das ist die ganze Tora, und das andere ist Erklärung dazu. Gehe also und lerne sie» (Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 31b).

Auch die im fünften Kapitel des Matthäusevangeliums im Zusammenhang mit der Nächstenliebe angesprochene Feindesliebe hat ihre Wurzeln im Judentum. Da diese hier jedoch nicht Gegenstand der Diskussion ist, soll folgendes Zitat des jüdischen Historikers Flavius Josephus genügen, gemäss dem Moses geboten habe: « … allen, die darum bitten, Feuer, Wasser, Nahrung zu gewähren, Wege zu zeigen, einen Unbestatteten nicht zu übersehen, gütig auch zu denen zu sein, die als Feinde gelten (Ap 2,209)».

Ein Blick in die jüdische Literatur zeigt demnach, dass es angebracht ist, das Doppelgebot eher als gemeinsames Gut von Judentum und Christentum und weniger als Spezifikum des Christentums zu betrachten. Der praktische Bezug der jüdischen (und christlichen) Auslegungen entkräftet den Vorwurf, diese Gebote überforderten den Menschen, vielmehr fordern sie ihn.

Im Gespräch mit Matthäus

Die Lehre vom Doppelgebot steht bei Matthäus in einem polemischen Kontext: Jesus wird von einem Schriftgelehrten «auf die Probe gestellt». Die Antwort des Schriftgelehrten erfahren wir bei Matthäus nicht. In die Tradition dieses polemischen Rahmens reiht sich auch ein Teil der christlichen Auslegungsgeschichte, wenn nämlich die Nächstenliebe aus ihrem jüdischen Kontext herausgelöst wird. Die Parallelstelle bei Markus ermöglicht jedoch auch andere Interpretationen: Dort stellt der Schriftgelehrte eine neutrale Frage, er will Jesus nicht versuchen. Wir erfahren ausserdem die Reaktion des Mannes auf Jesu Worte: Er stimmt diesen zu (Mk 12,28–33). Anders als bei Matthäus wird nicht der Gegensatz zwischen Jesus und dem Mann, sondern das Gemeinsame betont.

Die Nächstenliebe ist zusammen mit der Gottesliebe wohl nicht nur die Quintessenz des Christentums, sondern aller grossen Religionen. Nicht nur im Judentum, sondern auch im Islam, im Hinduismus und im Buddhismus gibt es ähnliche Aufforderungen. Das Buch Mahabharata formuliert die Nächstenliebe beispielsweise folgendermassen (5,1517): «Dies ist die Summe aller Pflicht: Tue anderen nichts, das dir Schmerz verursachte, würde es dir getan.» Die Feststellung dieser Gemeinsamkeiten ist sicherlich kein «Verlust» für das Christentum, im Gegenteil: Die Gewissheit, ähnliche Ziele wie Angehörige anderer Religionen zu haben, kein «Kämpfer auf einsamer Flur» zu sein, ist sicherlich ein tröstlicher und ermutigender Gedanke. Auch der Evangelist Markus weist wohl auf das Positive dieser gemeinsamen Werte hin, wenn er Jesus zum Schriftgelehrten sagen lässt: «Du bist nicht fern vom Reich Gottes» (Mk 12,34).