Wir beraten

«Ich bin der Weg»   

Franz Annen zum Evangelium am 5. Sonntag der Osterzeit: Joh 14,1–12 SKZ 18-19/2011

In Joh 14,1–12 aus den «Abschiedsreden» Jesu im Johannesevangelium geht es um das Weggehen Jesu und seine Verheissung, dass er wiederkommt, um die Jünger zu sich zu holen. Der Abschnitt ist durch drei Jüngerfragen gegliedert. Petrus fragt (13,36): «Herr, wohin willst du gehen?» Thomas fragt (14,5) nach dem Weg, auf dem die Jünger ihm nachkommen sollen. Und Philippus schliesslich bittet (14,8): «Herr, zeige uns den Vater!». Den Höhepunkt des Abschnittes bildet das feierliche Offenbarungswort Jesu: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater ausser durch mich» (14,6). Es geht also um das Ziel des Weggehens Jesu und des Nachkommens der Jünger sowie um den Weg dorthin.
«…was in den Schriften geschrieben steht»

Reinhold Mayer macht darauf aufmerksam, dass die «Attribute Weg, Wahrheit und Leben ... in der hebräischen Bibel ganz zentrale, bildhafte Bezeichnungen der Tora sind».1 Die Tora, die Weisung des Herrn, ist «sein (Gottes) Weg» (1 Kön 2,3; Ps 25,4; 119,3; Jes 2,3; 42,24; Mich 4,2). Und dieser Weg führt zum Leben. So heisst es etwa in Spr 6,23 (vgl. auch Lev 18,5; 2 Chr 6,16): «Denn eine Leuchte ist das Gebot und die Lehre ein Licht, ein Weg zum Leben sind Mahnung und Zucht.» In Ps 119,29–30 wird dieser Weg der Wahrheit dem Weg der Lüge entgegengesetzt: «Halte mich fern vom Weg der Lüge; begnade mich mit deiner Weisung! Ich wählte den Weg der Wahrheit.»

Für das AT und das Judentum ist der Weg Israels also die Tora. In Joh 14,6 bezeichnet sich Jesus selbst als den «Weg» und insistiert darauf, dass er der einzige Weg zum Vater sei. Ist diese Aussage gegen die Tora und damit gegen das Judentum gerichtet?2 Diese Frage an das Johannesevangelium bzw. an den johanneischen Jesus drängt sich im heutigen Kontext des Gesprächs zwischen Juden und Christen und der neu aufgebrochenen Frage nach der Judenmission unabweisbar auf.
Mit Johannes im Gespräch

Doch schauen wir uns zuerst den Text von Joh 14,6 selbst etwas genauer an. Man hat unter den Exegeten lange darüber gestritten, wie sich die drei Begriffe Weg, Wahrheit und Leben zueinander verhalten. Sind es Weg und Wahrheit, die zum Ziel, dem Leben, führen? Oder geben Wahrheit und Leben das Ziel an, wohin der Weg führt? Doch ist vom Kontext her kein Zweifel möglich, dass «der Vater» das Ziel des Weges ist. So herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass es im Ich-bin-Wort insgesamt um den Weg geht, der Jesus selber ist. «Der Weg» ist somit das eigentliche Bildwort; «Wahrheit» und «Leben» sind Leitbegriffe der johanneischen Theologie, die es erklären und ausfalten.

- «Wahrheit» meint im Johannesevangelium die Selbstoffenbarung Gottes, die in der Menschwerdung des Sohnes geschieht; Jesus selbst ist das «Wort», in dem Gott sich ausspricht und gesehen werden kann (Joh 1,14). So sagt Jesus kurz nach dem besprochenen Ich-bin-Wort zu Philippus (14,9): «Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.»

– «Leben» ist der umfassende Begriff für die Heilsgabe, die Jesus bringt. Es ist das Leben, das Gott selbst eigentümlich ist und das er mit dem Sohn teilt. Die Sendung des Sohnes ist es, allen, die an ihn glauben, Anteil an diesem Leben zu geben: «… damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen» (20,31).

Damit ist der johanneische Grundgedanke deutlich: Jesus ist der alleinige Weg zum Vater, weil er die «Wahrheit» in Person ist, nämlich das Wort, in dem der Vater sich zu den Menschen hin öffnet und sich ihnen mitteilt. Damit macht er es ihnen möglich, im Glauben zu antworten und sich ihm zuzuwenden. Ferner ist Jesus der alleinige Weg zum Vater, weil er das «Leben» in Person ist (vgl. Joh 10,25), nämlich das Leben, das Gott und dem Sohn gemeinsam ist und das den Menschen geschenkt wird, wenn sie an Jesus glauben. Beide Begriffe also, Wahrheit und Leben, bezeichnen die Selbstmitteilung Gottes in der Menschwerdung seines Sohnes, wodurch den Menschen Gemeinschaft mit Gott geschenkt wird. Das will das Johannesevangelium ausdrücken, wenn es Jesus «den Weg», u. z. den einzigen Weg zum Vater nennt.

Soweit die johanneische Theologie! Aber wird hier nicht ein Absolutheitsanspruch Jesu (und des Christentums?) erhoben, der gegen die Tora und damit gegen das Judentum als Weg zu Gott gerichtet ist? Dieser Verdacht liegt umso näher, als das Johannesevangelium ja verschiedentlich sehr harsch und pauschal über «die Juden» spricht (vgl. besonders Joh 8,44), wohl weil die Jesus-Anhänger, die hinter ihm stehen, den Ausschluss aus der «Synagoge» verkraften mussten (vgl. Anspielungen darauf in Joh 9,22; 12,42; 16,2).3

Zunächst: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Selbstbezeichnung Jesu als «Weg» in Joh 14,6 auf die alttestamentlich-jüdische Bezeichnung der Tora als «Weg» abheben will. Es findet sich im Kontext keine antijüdische Polemik; auch die Tora ist kein Thema. Viel näher liegt es, dass das häufige und in unterschiedlichsten Zusammenhängen gebrauchte Bild des Weges wegen seiner allgemeinen, spontan verständlichen Bedeutung verwendet wird.

Erklärungsbedarf ist vor allem wegen der zweiten Hälfte des Bildwortes gegeben (14,6b): «Niemand kommt zum Vater ausser durch mich.» Damit stellt der johanneische Jesus einen klaren Ausschliesslichkeitsanspruch. Tatsächlich musste der Text «häufig als Grund der gnadenlosen Behauptung und oft rigorosen Durchsetzung eines Absolutheitsanspruchs des Christentums herhalten».4 Hartwig Thyen weist zu Recht darauf hin, dass es in Joh 14,6 einzig und allein um Jesus als einzigen Weg zum Vater geht. Ein Absolutheitsanspruch des Christentums oder seiner irdischen Vertreter lässt sich daraus keinesfalls ableiten. Wichtig ist vor allem die Feststellung von Helmut Gollwitzer,5 dass Joh 14,6 nicht ein Gebot oder eine Bedingung an die Menschen formuliert, welchen Weg man gehen müsse, um zum Vater zu gelangen, sondern eine Zusage ist, auf welchem Weg Gott Heil und Gemeinschaft schenken will.

Was Jesus für das Heil der Juden bedeutet, ist zwischen Juden und Christen eine offene Frage, um deren Beantwortung schon der Apostel Paulus gerungen hat (vgl. Röm 9–11), der jedenfalls festhält, dass der Bund Gottes mit Israel nicht gekündigt ist: «Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt» (Röm 11,29).

1 «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» Ein Versuch über das Johannesevangelium aus Anlass der neu erwachten Debatte zur Judenmission: St. Schreiber/A. Stimpfle (Hrsg.): Johannes aenigmaticus. Studien zum Johannesevangelium für Herbert Leroy. Regensburg 2000, 183–195, zit. 190.

2 Die gleiche Frage stellt sich auch, wenn in der Apostelgeschichte die entstehende nachösterliche Gemeinschaft, die Jesus nachfolgt, als «der Weg» bezeichnet wird (Apg 9,2; 19,23; 22,4; 24,14,22). Doch gehört diese Frage nicht zum Thema dieses Beitrags.

3 Vgl. dazu Ch. Cebulj: Ich bin es. Studien zur Identitätsbildung im Johannesevangelium (= SBB 44). Stuttgart 2000, 229–234, der in diesem Zusammenhang von einem «Stigma-Management» des johanneischen Kreises spricht bzw. von der «konstruktiven und identitätsstiftenden Verarbeitung der Ausschlusserfahrung» (ebd., 230).

4 H.Thyen: Das Johannesevangelium (=HNT 6). Tübingen 2005, 623.

5 Ausser Christus kein Heil? (Johannes 14,6): W. P. Eckert (Hrsg.): Antijudaismus im Neuen Testament? München 1967, 171–194, vgl. 189.