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Unschuldig am Blut von dem?   

Dieter Bauer zum Evangelium am Palmsonntag: Mt 26,14–27,66 oder 27,11–54, SKZ 14/2011

Ein Mensch gerät ins Räderwerk der Mächtigen. Nur weil er eventuell deren Interessen schaden könnte, wird er gnadenlos verfolgt, angeklagt, gefoltert und hingerichtet. So geschehen vor 2000 Jahren in Jerusalem. Und früher schon. Und dasselbe geschieht auch heute noch immer wieder.

Deshalb ist es aber noch lange keine Selbstverständlichkeit. Wo solch himmelschreiendes Unrecht geschieht, stehen wir dem noch immer fassungslos gegenüber. Und suchen zu verstehen. Nicht anders ging es den Freunden und Freundinnen Jesu, als sie sein Leiden und Sterben fassen wollten. Sie suchten Hilfe in den Erfahrungen, die in ihren heiligen Schriften überliefert waren.

An Palmsonntag gibt es im Allgemeinen keine Predigt. Deshalb soll hier nur der vorgeschlagene «Kurztext» mit dem Prozess vor Pilatus Mt 27,11–26 kommentiert werden. Der vollständige Evangelientext wäre für eine Kommentierung an dieser Stelle zu lang.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Der ganze Prozess beginnt laut Matthäus mit einem Missverständnis, das sich aber nicht vermeiden lässt. Die Frage des römischen Statthalters: «Bist du der König der Juden?» wird von Jesus bejaht. Für Pilatus ist das ein Schuldeingeständnis, wie die Kreuzesinschrift zeigen wird (Mt 27,37). Für die schriftkundigen Leserinnen und Leser ist klar, dass Jesus nie von politischem oder messianischem Königtum gesprochen hat, wenn er von der Königsherrschaft Gottes sprach. Nicht umsonst zitiert Matthäus beim Einzug des «Königs» in seine Stadt den Propheten Sacharja: «Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist friedfertig und er reitet auf einer Eselin und auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers» (Sach 9,9). Ein Streitross ist etwas anderes.

Dieses Missverständnis zu klären ist nicht möglich, weil Pilatus Jesus nicht verstehen kann und «die Hohenpriester und die Ältesten» ihn nicht verstehen wollen. Also gibt Jesus auch von nun an «keine Antwort» mehr. Er ist der leidende Gerechte (vgl. Ps 32,3–5; 38,14–15; 39,10; Jes 53,7). Indirekt wird das auch bestätigt durch den Traum der Frau des Pilatus: «Lass die Hände von diesem Gerechten» (Mt 27,19). Leserinnen und Leser wissen, dass es Gott ist, der (solche) Träume schickt (vgl. Mt 1,20; 2,12.13.19). Doch im Gegensatz zur Kindheitsgeschichte kann die göttliche Intervention Jesus hier nicht retten.

Obwohl der Fall laut Matthäus politisch klar sein müsste – auf Hochverrat stand die Todesstrafe –, ist sich Pilatus doch nicht so sicher, ob nicht andere Gründe hinter dem Betreiben der jüdischen Autoritäten stehen (z. B. «Neid»; 27,18). Auch die vorgeschlagene «Festtagsamnestie» hilft nicht weiter. «Die Hohenpriester und die Ältesten» hetzen den zusammengelaufenen Haufen auf, «die Freilassung des Barabbas zu fordern, Jesus aber hinrichten zu lassen» (27,20).

Pilatus gibt nach. Er nimmt «Wasser, wusch sich vor dem Haufen die Hände und sagte: Unschuldig bin ich am Blut von dem» (so wörtlich 27,24). Mit der Bemerkung «Seht ihr zu!» schiebt er die Schuld genauso von sich wie es «die Hohenpriester und die Ältesten» am selben Morgen schon dem Judas gegenüber getan hatten: «Sieh du zu!» (27,4).

Das im griechisch-römischen Raum verbreitete Händewaschen des Pilatus ist sprichwörtlich geworden. Die Leserinnen und Leser aber kannten (anders als wir heute) ihre Heiligen Schriften, z. B. die Psalmen (Ps 26,6: «Ich wasche meine Hände in Unschuld»; Ps 73,13: «Also hielt ich umsonst mein Herz rein und wusch meine Hände in Unschuld»).

Allerdings: Während Pilatus jede Schuld von sich weist, wird vom Volk Verantwortung übernommen: «Da rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!» (Mt 27,25). Das erinnert erschreckend an Dtn 27,25, wo es heisst: «Verflucht, wer sich bestechen lässt, einen unschuldigen Menschen zu töten. Und das ganze Volk soll rufen: Amen.» Bei Matthäus wie dort ist es «das ganze Volk», das die Verantwortung übernimmt und sich selber damit das Gericht spricht. «Sein Blut komme über sein Haupt» (vgl. Jos 2,19; 2 Sam 1,16; 1 Kön 2,32; Jer 26,15; 51,35) verurteilt die Handelnden selbst wie ihre Nachkommenschaft.

Mit Matthäus im Gespräch

Diese von Matthäus inszenierte Übernahme der Verantwortung des «ganzen Volkes» für das unschuldig vergossene Blut Jesu hat eine verheerende Wirkungsgeschichte gehabt. Deshalb hier ein paar Bemerkungen:

1. Wir haben mit der Schilderung des Pilatusprozesses kein Augenzeugenprotokoll vor uns, sondern eine von Matthäus sorgfältig gestaltete Erzählung. Die Gestalt des Pilatus bleibt dabei ambivalent: Obwohl er von der Unschuld Jesu überzeugt ist, nützt er seine Macht zur Freilassung nicht. Damit lädt er natürlich Schuld auf sich.

2. Dass «das ganze Volk» die Verantwortung für Jesu Blut übernimmt, bedeutet nicht, dass dies «in alle Ewigkeit» gilt. Auch an anderen vergleichbaren Stellen der Schrift (1 Kön 2,33; Jer 26,15) bleibt die kollektive Verantwortung jeweils bei den Handelnden selbst, ihrer Sippe und ihrer Stadt. Von einer «Kollektivschuld ganz Israels» kann also keine Rede sein! Matthäus ist es auch an anderer Stelle wichtig, auf die Verantwortung «dieser Generation» hinzuweisen (z. B. Mt 11,16; 12,39.41.42–45; 16,4 u. ö.). Das hat nichts damit zu tun, dass Gott seinem Volk nicht auch weiterhin die Treue hielte, wie die deuteronomistische Bundestheologie immer wieder betont: Einzelne mögen verworfen werden, nie aber das ganze Volk Gottes für immer!

3. Von den christlichen Leserinnen und Lesern des Matthäusevangeliums konnten die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalems wie auch das römische Massaker an den Einwohnern 70 n. Chr. als «Gericht Gottes» verstanden werden. Für die kontinuierliche Ablehnung der Boten Gottes wird es auch sonst in der Schrift angedroht. Damit war die «Schuld» dann aber auch abgegolten! Da die frühchristliche Gemeinde des Matthäus nicht nur die Katastrophe Jerusalems erlebt hat, sondern auch in Auseinandersetzung stand mit dem pharisäisch geprägten Judentum der Folgezeit, hat ein solches Modell der «Strafe Gottes» womöglich der Stabilisierung der christlichen Gruppenidentität gedient.

4. Wie gesagt: Die Passionsgeschichte des Matthäus interpretiert, was er und seine Gemeinde erlebt haben. Hier geht es also nicht um ein «heilsgeschichtliches Gesetz», gar noch eine Verwerfung des Judentums. Wenn Jesus sein «Blut, das Blut des Bundes, für viele vergossen [hat] zur Vergebung der Sünden» (Mt 26,28), dann ist Israel damit genauso wenig vom Heil ausgeschlossen wie die Heiden, die von der Gemeinde des Matthäus missioniert werden.

Und ein Letztes: Wer schuldig oder unschuldig ist am Blut Jesu, ist nicht gebunden an eine Ethnie, sondern an einen Ethos: «ob man als Jude oder Nichtjude dem Anspruch Jesu glaubt, Früchte bringt, wachsam ist, Öl in den Lampen hat u. a.» (Hubert Frankemölle). So einfach können wir uns auch heute nicht aus der Verantwortung stehlen.

Literaturtipp:
Hubert Frankemölle: Matthäus Kommentar 2. Düsseldorf 1997.