Wir beraten

Lazarus und der Tempel   

Peter Zürn zum Evangelium am 5. Fastensonntag: Joh 11,1–45 SKZ 13/2011

Der 5. Fastensonntag weist durch seine Lesungen voraus auf Ostern. Die Lesungen in der Osternacht, die allesamt Auferstehungsgeschichten sind, bezeugen Gottes Treue in der Geschichte. Dass es dabei in besonderer Weise um die Treue zu Israel geht, zeigt Joh 11.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Johannes strukturiert sein Evangelium durch jüdische Feste.1 In Joh 10,22 beginnt Chanukka (Einheitsübersetzung: «Tempelweihfest»). Chanukka erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels im Jahr 165 v. u. Z. durch die Makkabäer nach dem erfolgreichen Aufstand gegen den hellenistischen Herrscher Antiochus IV., der den Tempel durch den Opferkult für den Staatsgottes Zeus Olympiakos entweiht hatte. Damals wurde beschlossen, «dass die Tage der Erneuerung der Schlachtstätte jährlich begangen werden sollen, acht Tage lang, gerechnet vom 25. Tag des Monats Kislew an, mit Freude und Heiterkeit» (1 Makk 4,59 Übersetzung: Veerkamp). Joh 11 steht also im Kontext der Erneuerung des Tempels. In den Tempel weist auch der Name Lazarus bzw. Lazaros, die griechische Form des hebräischen Namens Elasar oder Eleasar (dt.: «Gott hilft»).2 Die meisten biblischen Belegstellen beziehen sich auf den Priester Eleasar, den Sohn und Nachfolger Aarons. Num 20,22–2 erzählt, wie Eleasar mit den Kleidern seines Vaters auch dessen Rolle übernimmt. In Num 27,15–23 setzt Mose den Josua als seinen Nachfolger ein – vor den Augen Eleasars und der ganzen Versammlung Israels. Josua und Eleasar stehen also in der Nachfolge Moses und Aarons. 1 Chr 29,27–41 erstellt einen Stammbaum der Hohenpriester in Jerusalem von Levi über Aaron und Eleasar. Zu ihren Nachkommen gehört Zadok, der zur Zeit des Königs David Priester war. Nach ihm nannten sich die führenden Priester in Jerusalem Sadduzäer. Zur Zeit Jesu haben sich die Verhältnisse zwischen «Mose» und «Aaron» umgekehrt. Die Priester sind die führende politische Schicht. Auch die Figur des Lazarus/Eleasars weist also in den Kontext des Tempels bzw. der Priesterschicht.3 Allerdings repräsentieren die Priester ganz Israel vor Gott. Und auch der Tempel kann für das ganze Volk Israel stehen. Entsprechend trägt Lazarus in Joh 11 keine individuellen Züge. Er steht für Israel.

Die Geschichte beginnt mit seiner Krankheit (Joh 11,1) und spricht später von seinem Tod (11,14) bzw. der schon einsetzenden Verwesung seiner Leiche (11,39). Das ist die Situation zur Zeit des Johannesevangeliums (Joh). Der Tempel ist seit dem Jahr 70 n. u. Z., nach dem erfolglosen Aufstand gegen die Römer, zerstört. All die Hoffnungen, die mit ihm verbunden waren, sind gestorben und zersetzen sich. Es geht also um mehr als um die Erneuerung des Tempelkultes. Die Zerstörung des Tempels war eine Katastrophe für das ganze Volk Israel. Dessen gesamte Zukunft steht auf dem Spiel.

Vermutlich liegt in der Krankheit des Lazarus vor seinem Tode trotzdem eine kritische Spitze gegen den Tempelkult vor seiner Zerstörung. Schon damals lag vieles im Argen, war etwas «krank» am Tempelkult. Joh stellt ja die «Tempelreinigung» Jesu programmatisch an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu in Jerusalem (Joh 2,13–22). Allerdings spricht Joh 11 eindeutig von der engen Freundschaft Jesu zu Lazarus/Eleasar. «Jesus liebte Lazarus» (11,5). Das wird auch wahrgenommen: «Seht, wie lieb er ihn hatte!» (11,36). Joh und Jesus trauern intensiv um den Toten. Sie trauern mit Marta und Maria und den vielen anderen Juden, die zum Trauern und Trösten gekommen sind (11,19). Der Tod des Lazarus/Eleasar, das Ende des Tempels, der Tod von Zukunftshoffnungen Israels geht ihnen allen sehr, sehr nahe. «Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert» (11,33). Joh und die johanneischen Gemeinden haben intensive Konflikte mit anderen jüdischen Gruppierungen ausgetragen (ein Echo davon ertönt in 11,8). In der Trauer über die Katastrophe des Jahres 70 sind sie aber alle vereint. Das Christentum hat die Erinnerung an diese Trauer nicht im gleichen Masse wie das Judentum bewahrt (Ausnahme ist der Israelsonntag als Gedenktag der Zerstörung Jerusalems in der evangelischen Tradition)

Die Leseordnung macht einen weiteren biblischen Bezug von Joh 11 sichtbar: Auch der Lesungstext Ez 37 reagiert auf die Zerstörung des Tempels (diesmal 586 v. u. Z.). Auch hier ist die Rede von Toten, von einer ganzen Ebene voller Gebeine. Auch hier werden die Toten aus den Gräbern herausgeholt und wieder lebendig gemacht. Leider lässt die Leseordnung den Vers Ez 37,11 weg, der klar identifiziert: «Diese Gebeine sind das ganze Haus Israel.» Ez 37 spielt in der jüdischen Geschichte eine wichtige Rolle. Die Menora vor dem israelischen Parlament in Jerusalem stellt das Bild, wie Gottes Geist in Gestalt von vier Winden (Ez 37,9) die Gebeine mit Leben erfüllt, über das Bild des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto.4 Die rabbinische Tradition diskutiert darüber, ob es sich bei Ez 37 um ein Gleichnis oder um Wirklichkeit handelt. «Rabbi Jehuda sagte: Ein wirkliches Gleichnis war es.» Und Rabbi Eliezer und Rabbi Jehuda ben Bathyra erklären das so: «Die Toten, die Ezechiel lebendig gemacht hat, zogen hinauf in das Land Israel … und zeugten Söhne und Töchter … Ich bin von den Kindern ihrer Kinder; und das sind die Gebetsriemen, die mir mein Grossvater von ihnen hinterlassen hat.»5 Die Wirklichkeit des Gleichnisses zeigt sich im Fortbestehen des Volkes Israel. In der Erneuerung Israels, die die Auferstehung der Toten ist, zeigt sich die Treue Gottes.

Mit Johannes im Gespräch
Joh 11 ist das Zentrum des Johannesevangeliums. Im Zentrum von Joh 11 begegnen sich Marta und Jesus. Marta hält Jesus entgegen: «Wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben» (11,21): Einige Juden fragen später: «Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb?» (11,37). Ps 74 – ein Psalm nach der Tempelzerstörung – bringt diese Anfragen Israels vor den Gott der Schöpfung und der Befreiung: «Mit deiner Macht hast du das Meer zerspalten, die Häupter der Drachen über den Wassern zerschmettert … Zeichen für uns sehen wir nicht, es ist kein Prophet mehr da, niemand von uns weiss, wie lange noch» (Ps 74,13.9). Die Frage «Wo ist Gott angesichts unseres Leids?» zieht sich durch die Geschichte, in besonderer Weise durch die Geschichte des jüdischen Volkes. Joh gibt dieser Frage Raum und Würde. Und reagiert darauf in den Worten Jesu: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer mir vertraut, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und mir vertraut, wird nicht sterben für die kommende Weltzeit» (11,25). Leben trotz des allgegenwärtigen Todes, trotz der Allmacht der Todesmacht, die damals Rom hiess, wird Israel verkündet. Lazarus/Eleasar/Israel in seinem tödlichen Zustand, wird nicht sterben, wenn es dem Messias vertraut, d. h. wenn es auf Gottes Treue vertraut. Wenn es vertraut, dass Gott sich trotz allem in dieser Welt als lebensschaffende und befreiende Kraft an Israel erweist. Das bekennt Marta: «Ich vertraue, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.»

1 Ton Veerkamp: Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums. Teil II: Johannes 10,22–21,25 in: Texte und Kontexte Nr. 113–115 1–3/2007 5 ff.

2 Ebd., 11

3 Das wirft auch ein besonderes Licht auf das Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus in Lk 16,19–31.

4 Vgl. Jürgen Ebach: Ich bringe Ruach in euch!, in: Bibel heute 151 (2002), H. 3, 67–69.

5 Ebd., 69.