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Die Fastenzeit: Zwischen Versuchung und Erlösung   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 1. Fastensonntag: Mt 4,1–11 / SKZ 9/2011

Jesus wird nach seiner Taufe am Jordan durch Johannes vom «Geist» in die Wüste geführt, wo er vierzig Tage fastet und vom Teufel versucht wird. Dieser Text steht zu Beginn der vierzigtägigen Fastenzeit: Er lädt ein, die Versuchungen, die der Teufel an Jesus herantrug, auch auf das eigene Leben zu beziehen und im Kontext der eigenen Lebensgestaltung zu reflektieren.

Trotz der Trostlosigkeit der Situation – der erschöpfte Jesus in der Wüste dem Teufel ausgeliefert – finden sich in unserer Passage zahlreiche Anspielungen auf Rettung und Befreiung: Die Wüste erinnert an den Auszug aus Ägypten und damit an das jüdische Pessachfest, das wie Ostern im Frühling gefeiert wird. Die Wüste ist in der hebräischen Bibel nicht nur ein Ort der Versuchung, sondern auch der Ort der Gottesbegegnung par excellence!

«…»«…was in den Schriften geschrieben steht»

Matthäus gestaltet seine Erzählung von der Versuchung Jesu in enger Anlehnung an die Exoduserzählung: Indem sich Jesus vor seinem öffentlichen Auftreten in Galiläa für vierzig Tage in die Wüste zurückzieht, vollzieht er die Erfahrung seines Volkes nach, das vor dem Einzug ins gelobte Land vierzig Jahre durch die Wüste irrte. Einmal mehr erweist sich der matthäische Jesus dadurch ganz und gar als Mitglied des jüdischen Volkes. Die vierzig Tage von Jesu Rückzug in die Wüste erinnern nicht nur an die vierzigjährige Wanderung der Israeliten, sondern auch an den Moment der göttlichen Offenbarung an Moses: «Und er (= Moses) war allda bei dem Herrn vierzig Tage und Nächte und ass kein Brot und trank kein Wasser. Und er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die Zehn Worte» (Ex 34,27). Die vierzig Tage in der Wüste sind eine Zeit der Sammlung, der Konzentration und Gotteserfahrung – trotz der teuflischen Versuchung.

Gleich zu Beginn unseres Evangeliums steht ein verstörender Satz: Der «Geist», der eben noch auf Jesus bei der Taufe hinabgefahren ist, führt ihn nun in die Wüste, damit er vom Teufel versucht werde! Stecken der Teufel und Gott etwa unter einer Decke? Ein Blick in das erste Testament zeigt, dass Gott durchaus als Versucher der Menschen auftreten kann und damit die typische spätere Funktion des Teufels vorwegnimmt: So versucht Gott den Abraham, indem er ihm Isaak zu opfern befiehlt: «Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: (...) Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast (…) und opfere ihn!» (Gen 22,1). Auch die vierzigjährige Reise des Volkes Israel in der Wüste – auf die unser Evangeliumstext ja anspielt – wird als Probe von Gott her verstanden: «Und gedenke des ganzen Weges, den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütige und versuchte, damit kund würde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht» (Dtn 8,2). Gemäss dem Hiobbuch erlaubt Gott dem Satan, der Gott unterlegen ist und irgendwie zu dessen Gefolge zählt, ausdrücklich, Hiob auf die Probe zu stellen (Hiob 1,7–12). Erst später wurde diese Vorstellung von Gott als Versucher teilweise als anstössig empfunden: Ähnlich wie bei Matthäus wird auch in rabbinischen Texten Gott als Versucher durch den Satan ersetzt: So ist es im babylonischen Talmud nun der Satan, der hinter der Versuchung Abrahams steht (bSan 89b). Unser Text steht damit in einer Reihe von Texten, die mit der schwierigen Frage um die Herkunft des Bösen ringen. Eine eindeutige Antwort darauf bieten sie nicht. Vielleicht liegt in den unterschiedlichen Antworten auf die ungelöste Frage nach der Herkunft des Bösen, die in den Heiligen Schriften gegeben werden, auch ein Hinweis darauf, dass die Schuld in einer konkreten Situation nicht sofort immer einfach und eindeutig lokalisiert werden kann.

Der Teufel erscheint Jesus ja offenbar nicht als bockfüssiges, völlig fremdes Gegenüber, im Gegenteil: Das Gespräch zwischen Jesus und dem Teufel mutet wie die Diskussion zwischen zwei Gelehrten an, der Teufel erweist sich dabei durchaus als bibelfester Gesprächspartner! Hält der Teufel Jesus Selbstzweifel vor? Die erste Versuchung lässt einerseits an die verbotene Paradiesesfrucht (Gen 3,1–5), aber auch an das Manna in der Wüste denken (Ex 16). In der zweiten Versuchung bezieht sich Satan direkt auf Psalm 91,11»«…»«…f. Die dritte Versuchung lässt an Verheissungen an die Patriarchen denken, wenn etwa dem Abraham versprochen wird, dass durch ihn ein «grosses und mächtiges Volk werden soll und alle Völker auf Erden in ihm gesegnet werden sollen» (Gen 18,18).

Jesus antwortet dem Teufel stets mit einem Zitat aus der Mosesgeschichte, zuletzt und als Höhepunkt aus den Zehn Geboten. Durch diese Zitate wird die Einbettung unserer Passage die Exoduserzählung und damit der erlösende Charakter, der in dieser Prüfung durchscheint, noch betont.

Im Gespräch mit Matthäus

Ich möchte auf eine ganz und gar «unorthodoxe» Weise mit Matthäus ins Gespräch kommen. Bei der Vorbereitung der Passage ist mir spontan eine andere, viel spätere Heilige Schrift in den Sinn gekommen, nämlich der Koran. Nicht nur der Teufel nimmt wie bei Matthäus «heilige Worte» in den Mund, auch Jesus vertritt eine ähnliche Auffassung, wie sie im Koran der Teufel – auf Arabisch Iblis – vertritt: Iblis weigert sich, einem anderen als Gott zu dienen, indem er sich vor dem gerade erschaffenen Adam nicht niederwerfen will: «Und (damals) als wir (= Gott) zu den Engeln sagten: ‹Werft euch vor Adam nieder!› Da warfen sie sich (alle) nieder, ausser Iblis. Der weigerte sich und war hochmütig. Er gehörte nämlich zu den Ungläubigen» (Koran Sure 2,34).

Dieses «Gott allein dienen» von Jesus und Iblis unterscheidet sich natürlich: Während «Gott dienen» für Jesus in der jüdischen Tradition die Sorge um die Menschen und die Welt einschliesst, verhindert das ausschliessliche nur «Gott dienen» von Iblis die Sorge um Mensch und Schöpfung. Liegt in dieser Umkehrung des letzten Wortes Jesu aus dem Koran aber dennoch nicht auch ein Denkanstoss für uns? Sogar das Gebot, nur Gott allein zu dienen, kann gefährlich werden, wenn es verengend und ausschliesslich geschieht. Ein Mensch, der seine Aufmerksamkeit im «Tunnelblick» nur auf Gott richtet, schadet seinen Mitmenschen und der Welt. Ebenso wie das rücksichtslose Stillen von Bedürfnissen und das Streben nach Anerkennung und Macht verderblich sind, kann auch ein egoistisches Gottesverständnis keine Früchte tragen.

Die christliche Theologie hatte über die Jahrhunderte die Tendenz, das Brot im wörtlichen Sinn zu Gunsten des Brotes im übertragenen Sinne zu vergessen und damit «lebensfremd» zu wirken. Vielleicht kann diese ganz und gar anachronistische Parallele zwischen dem Koran und unserem Evangelium helfen, dem realen Brot einen angemessenen Platz neben dem geistigen Brot (zurück) zu geben. Jesus selber hat dieses Brot nicht vernächlässigt, wie das Wunder der Brotvermehrung zeigt! Aber eben: Es geht nicht darum, Brot für sich allein zu schaffen, sondern auch für andere! Es geht nicht darum, Macht nur um der Macht willen innezuhaben, sondern es geht darum, mächtig zu sein, damit «alle Völker (…) gesegnet werden sollen.» (Gen 18,18)