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Umkehr zur eigenen Herkunft   

Peter Zürn zum Evangelium am 2. Adventssonntag: Mt 3,1–12 SKZ 47/2010

Wenn etwas in die Krise gerät…

Gibt es zukunftsweisende Wege, die zugleich der eigenen Geschichte treu bleiben?

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Johannes der Täufer tritt in einer Krisenzeit auf. Sein Aufruf zur Veränderung kommt bei vielen an (Mt 3,5–6). Das Matthäusevangelium (Mt) beginnt so – nach der Ouvertüre der Kapitel 1–2 – die Erzählung vom Wirken Jesu und folgt damit Mk. Mt erweitert aber die Predigt von Johannes gegenüber Mk um zwei Elemente:

Es verstärkt erstens die Gerichtsbilder massiv. Es spricht von Bäumen, die keine Frucht bringen und an deren Wurzel bereits die Axt gelegt ist und von der Spreu, die vom Weizen getrennt wird. Beide werden im Feuer verbrannt werden. Damit greift Mt weit verbreitete biblische Gerichtsbilder auf. Jer 21,14 deutet die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier als Handeln Gottes: «Ich lege Feuer an den Wald dieser Stadt, das ringsum alles verzehrt» (auch in 22,7). In Jes 41,15–16 war es noch Israel, das in Gottes Auftrag zum Dreschen und Worfeln der Berge und Hügel berufen war, in Jer 15,7 erleidet es dieses Schicksal selbst. In Weish 5,14 ist «die Hoffnung der Frevler wie die Spreu, die der Wind verweht» – genau wie in Ps 1,4. Mt (und parallel auch für Lk) betonen, dass nicht nur die Zeit der Umkehr, sondern auch die Zeit des Gerichts gekommen ist. Die bisherigen Wege führen nicht weiter. Es steht eine definitive Entscheidung bevor. Es liegt nahe, dass diese Einschätzung durch die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 ausgelöst wurde, die auf Bilder zurückgreifen lässt, die mit der Zerstörung Jerusalems 600 Jahre früher verbunden sind.

Mt und Lk fügen zweitens in die Predigt des Johannes eine Auseinandersetzung um Abraham und seine Kinder ein. Während sich der Täufer im Lk an das ganze Volk richtet, lässt Mt ihn ausdrücklich zu den Pharisäern und Sadduzäern sprechen. Mt und des Lk führen eine Debatte innerhalb des Judentums darüber, wer denn zu Abrahams Nachkommen zu zählen ist und wer nicht. Auch damit wiederholt sich nach 70 etwas, das sich bereits 600 Jahre früher zugetragen hat. Nach dem Ende der äusseren Elemente, die Zusammenhalt gewährten und Identität stifteten – Hauptstadt, Tempel, (Hoffnung auf) politische Unabhängigkeit und Königtum –, wird die Abstammung zum entscheidenden Merkmal. «Blickt auf Abraham, euren Vater, und auf Sara, die euch gebar», ruft Deuterojesaja dem Volk im Exil zu (Jes 51,2). Die Betonung der Abstammung führt leicht zur Abgrenzung von «Fremdem», wie es nach der Rückkehr aus dem Exil geschehen ist. Die Auflösung von Ehen mit fremden Frauen und das Verbot von Mischehen in Esra 9 und 10 sind Ausdruck davon. Allerdings geschieht dies nicht unwidersprochen. Das Buch Rut mit seiner Heldin, der Fremden aus Moab, die zur Vorfahrin des Königs David wird, ist die erzählerische Opposition dazu.

Wenn Abstammung zum entscheidenden Kriterium der Zugehörigkeit zum Volk Gottes wird, besteht die Gefahr, dass die eigene Verantwortung für das Leben nach den Weisungen Gottes, das «Tun der Gerechtigkeit», wie Mt es immer wieder nennt, in den Hintergrund tritt. Im Buch Rut ist es Boas, der als Efratiter aus Betlehem (Rut 1,2) über den Jakobssohn Juda von Abraham abstammt (1 Chr 4,4), der fragt, wie die überlieferten Weisungen in der aktuellen Situation Gerechtigkeit schaffen können, auch und gerade für die Schwächsten in der Gemeinschaft, für verwitwete und fremde Frauen.

Die Verbindung zu Abraham ist in der Bibel nicht einfach selbstverständlich, schon Jes 63,16 betet zu Gott: «Du bist doch unser Vater, denn Abraham weiss nichts von uns.» In dieser Linie steht Johannes der Täufer, wenn er sagt: «Meint nicht, ihr könntet sagen, wir haben ja Abraham zum Vater. Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen» (Mt 3,9; Lk 3,8). Der Ton der Auseinandersetzung um die Abstammung scheint sich zu verschärfen, nicht nur gegenüber dem Buch Rut. Paulus argumentiert im Brief an die Gemeinden in Rom und Galatien integrierend: «Unser leiblicher Stammvater Abraham» (Röm 4,1) hat noch viele weitere Nachkommen. Er macht sich für die Überzeugung stark, dass «alle, die glauben, zu dem glaubenden Abraham» gehören (Gal 3,9). Paulus ringt um alle, die er als Kinder Abrahams sieht. Jetzt, eine Generation und eine Katastrophe später, wird gefragt, ob die Herkunft von Abraham überhaupt noch einen Wert hat? Ob die Kinder Abrahams ersetzbar sind? Durch Steine? Die Auseinandersetzung scheint zur Zeit des Mt und Lk so heftig geworden zu sein, dass sie zu verletzenden Abwertungen (vermutlich auf allen Seiten) führte. Die Vorstellung in einer Zeit des Gerichts zu leben, verschärft den Ton zweifellos noch.

Aber Mt gibt selbst im erbittertsten Streit die Bedeutung der Abstammung von Abraham nicht auf. Er nennt Jesus Christus gleich zu Beginn seines Buches der Genesis Jesu Christi (so wörtlich in Mt 1,1 ) «Sohn des Abraham». Jesus kommt von Abraham her. Die neue Geschichte, die Matthäus erzählt, ist die Fortführung einer uralten Geschichte.

Mit Matthäus im Gespräch

Mit Mt 3,1 setzt die Erzählung des Matthäusevangeliums neu an. Vorher erklingen in der Ouvertüre bereits ihre Hauptthemen: In Jesus, dem Messias, geht die alttestamentliche Geschichte weiter, die Verheissungen erfüllen sich, es wird neu erfahrbar, wer Gott ist: Immanuel, Gott mit uns (Mt 1,23). Zum Volk Israel, gegenwärtig im Stammbaum Jesu, treten neue Menschen aus den Völkern hinzu, verkörpert in den Sterndeutern aus dem Osten. Sogar Ägypten (!) erweist sich als ein Ort, an dem das neue, aber gefährdete Leben, das Zukunft und Rettung bedeutet, geschützt wird. Von entscheidender Bedeutung ist aber, die Zukunft des Volkes Israel. Es ist in einer tiefen und lebensbedrohlichen Krise. Es steht vor einem Neuanfang. Mit Johannes kehrt es um und geht zurück an den Jordan. Dort hat schon einmal das Leben im Land der Verheissung begonnen. In diesem neuen Land muss sich bewähren, was die bisherigen Sklaven/Sklavinnen in der Wüstenzeit gelernt haben, das Leben in Freiheit. Mt ist überzeugt: In der jetzigen Krise, nach der Katastrophe des Jahres 70, gehört zu dieser Freiheit auch die Freiheit von der Abstammung, wenn sie die Eigenverantwortung lähmt und andere ausschliesst. Sich davon zu befreien, das bedeutet Umkehr zur eigenen Herkunftsgeschichte. Diese neue Freiheit bleibt der Exodusgeschichte treu und führt sie weiter. Und das bringt in der Bildsprache von Mt 3 Frucht. Vielleicht wird auch dieses fruchtbringende Volk schon in der Ouvertüre verkörpert, in Josef nämlich, der «gerecht war» (Mt 1,19); in einem Menschen also, der nach der Gerechtigkeit Gottes fragt und handelt und sich dabei am Wohl und Nutzen der Menschen orientiert, für die er verantwortlich ist. Mt wendet sich an Sadduzäer und Pharisäer, an die Gruppen, die vor und nach dem Jahr 70 Verantwortung tragen. Gut möglich, dass Josef – in der Tradition des Boas – Vorbild für sie sein soll.