Wir beraten

Die Radikalität der Nachfolge   

Hanspeter Ernst zum Evangelium am 13. Sonntag im Jahreskreis: Lk 9,51–62 SKZ 24/2010

Ist es nicht seltsam: Bis vor kurzem wussten nur wenige in der Schweiz, was eine Burka ist. Heute weiss man es zwar auch nicht, sie ist aber in aller Munde. Und wieso? Weil zum Islam Konvertierte sie zum Thema und sich selbst zu besonders gläubigen Muslimen machten. Gläubig meint hier, dass sie die reine Religion wollen, so wie sie im Koran vorgesehen ist, ohne Verwässerung und ohne die Verfälschungen der Tradition. Obwohl die überragende Mehrheit gläubiger Muslime in einer solchen Haltung ihren eigenen Glauben nicht erkennen kann, genossen diese Wenigen ein mediales Interesse. Das nicht nur, weil man sich die eigenen Feindbilder gerne bestätigen lässt – seht nur, das ist der Islam –, sondern weil diese rigorose Art nebst aller Kuriosität eine gewisse Faszination auszustrahlen vermag. Könnte es nicht sein, dass Religion so zu leben vielleicht doch das Wahre ist? Denn sie macht keine Abstriche. Glaubt wörtlich. Handelt entsprechend. Sie ist einfach, um nicht zu sagen simpel. Braucht auch keine komplizierten Erklärungen.

Lassen wir einmal den Islam beiseite, nehmen wir die Bibel: Lesen wir in der heutigen Perikope den Satz Jesu: «Lass die Toten ihre Toten begraben» (Lk 9,60). Die Aussage ist klar. Aber ist sie nicht unmenschlich? Kann der Ruf in die Nachfolge so drängend sein, dass nicht einmal die Zeit reicht, den eigenen Vater zu begraben? Das indes ist das Problem: Wer so fragt, muss sich vorwerfen lassen, dass er/sie Gottes Wort, wie das rein in der Bibel steht, menschlichem Denken unterordnet. Darf man das?

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Ich gehe davon aus, dass Lukas bei der Beerdigung seines Vaters anwesend war. Wieso? Weil Lukas radikal, nicht rigoros war. In seinem Evangelium scheint immer wieder die Exodus-Thematik durch. Dies nicht nur, weil mit 9,51 der sogenannte lukanische Reisebericht beginnt, der nach Ansicht bestimmter Fachpersonen als Wüstenwanderung verstanden werden kann, sondern weil sein ganzes Evangelium mit dieser Thematik durchtränkt ist. Die Geschichte Jesu ist die des Propheten wie Mose. «Es geschah aber, als die Zeit erfüllt war und die Tage, da er in den Himmel aufgenommen werden sollte, gekommen waren, dass er den festen Entschluss fasste, nach Jerusalem zu ziehen» (9,51). Jesus macht sich auf den Weg nach Jerusalem. Es ist also nicht Zufall, dass er nach Jerusalem geht. Er macht diesen Schritt bewusst. Und Jerusalem steht nicht nur als Ort, wo er in den Himmel aufgenommen werden wird, sondern auch als Ort des Sterbens und der Auferstehung. «Er sandte Boten vor sich her. Die machten sich auf und kamen in ein samaritanisches Dorf, um ihm ein Nachtlager zu richten» (V. 52). Mag sein, dass mit diesem Vers Mal 3,1 anklingt und damit auch dessen Weissagung «Siehe, ich sende euch Elija, den Propheten, bevor der Tag des Ewigen kommt, der grosse und furchtbare. Und er wird das Herz der Vorfahren wieder zu den Nachkommen bringen und das Herz der Nachkommen zu den Vorfahren …» (Mal 3,23 f.). Doch nun nimmt die Geschichte eine seltsame Wendung: Die Samaritaner weigern sich, Jesus aufzunehmen, weil er fest entschlossen ist, nach Jerusalem zu ziehen. So sind er und seine Jünger gezwungen, den Weg fortzusetzen. Das freilich geht nicht ohne den flammenden Protest seiner Jünger Jakobus und Johannes, den Jesus zurückweist.
Warum diese Geschichte mit den Samaritanern? Müssen sie genannt werden, weil sie ihren eigenen Tempel auf dem Garizim haben und also gegen den Tempel von Jerusalem sind oder weil sie aus jerusalemisch-jüdischer Sicht nicht als ganze Juden betrachtet werden? Denn sie beschränken sich bei den Heiligen Büchern auf die Tora des Mose, den Pentateuch. Ihre Weigerung wäre dann verständlich. Sie hätten chauvinistische Gründe, Jesus das Nachtlager nicht zu gewähren. Die Schwierigkeit einer solchen Erklärung liegt darin, dass der Fokus zu sehr auf die Stadt Jerusalem und ihren Herrschaftsanspruch gelegt wird. Der Entschluss Jesu, nach Jerusalem zu gehen, hängt jedoch mit seinem Geschick und nicht nur mit der realen Stadt und deren Symbolik zusammen. Oder denkt Lukas schon von der Zukunft her: In Apg 8,4–25 erfahren wir, wie Philippus in Samaria mit grossem Erfolg für die Sache Jesu wirkt. Damit wäre ein Kontrast beschrieben: Von der Ablehnung zur Annahme. Möglich wäre es, vor allem wenn die Samaritaner zu den Heiden gerechnet werden. Aber ist sie auch überzeugend?

Es sei ein anderer Versuch gewagt: Ich stelle die Geschichte in die Geschichte des Exodus hinein. Der Weg Jesu und der Seinigen nach Jerusalem ist wie der Weg der Israeliten von Ägypten ins gelobte Land. Auch da ist es den Israeliten schwergefallen, Mose anzunehmen. Es sei an die Geschichte der israelitischen Aufseher erinnert. Sie beschweren sich bei Mose und Aaron. Seit sie sich beim Pharao für die Freilassung der Israeliten eingesetzt haben, hat der Pharao die Bedingungen der Sklaverei nur noch verschärft. Sie sagen: «Der Ewige soll auf euch schauen und euch richten, denn ihr habt unseren Geruch vor dem Pharao und seinen Knechten stinkend gemacht, indem ihr ein Schwert in ihre Hand gegeben habt, mit dem sie uns umbringen können» (Ex 5,21). Die Rabbinen erzählen dazu folgendes Gleichnis: «Gleich einem Aas, das in einen Winkel gelegt und mit Staub bedeckt worden war. Sein Gestank konnte sich nicht verbreiten. Ein andrer kam und deckte es auf. Da verbreitete sich sein Gestank. So sagten die Israeliten: Mose! Der Gestank der Knechtung durch die Ägypter war bis jetzt nicht stechend. Jetzt aber, da uns Befreiung bevorsteht, seid ihr gekommen und habt ihn unerträglich gemacht. Es heisst ja: ‹Indem ihr ein Schwert in ihre Hand gegeben habt, damit sie uns umbringen können› (Ex 5,21)» (ShemR 5,21). Es ist der Auftrag, den Mose und Aaron im Namen Gottes ausführen, der die Israeliten schwer belastet. Sie haben sich mit der Sklaverei abgefunden – auch wenn sie stöhnen und schreien – wie mit einem Aas, das unter ein wenig Staub die Luft zwar verpestet, aber doch so, dass man noch atmen kann. Der Gestank wird erst unerträglich, wenn das Aas aufgedeckt wird. Jetzt muss man handeln: Entweder deckt man es erneut zu oder man entfernt es. Der Weg in die Freiheit braucht Kraft. Er schwankt zwischen der Hoffnung auf Befreiung und der Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens, zwischen Ablehnung und Annahme.

Mit Lukas im Gespräch

Vielleicht hat Lukas diese Geschichte vom samaritanischen Dorf, das Jesus die Beherbergung verweigert, den drei Sequenzen über den Ernst der Nachfolge (Lk 9,57–62) vorangestellt, damit die Nachfolge nicht in einem rigorosen Sinne verstanden wird. Dabei kommt den beiden Jüngern Jakobus und Johannes eine besondere Rolle zu. Sie möchten gegen das Dorf mit Feuer und Schwefel vorgehen. «Jesus wandte sich um und fuhr sie an» (V. 55). Sie, die beiden Jünger, verstehen nicht, dass der Weg in die Freiheit niemandem aufgezwungen werden kann. Ihr rigoroser Eifer muss sich wandeln. Er muss radikal werden. Denn rigoros bedeutet nichts anderes, als dass man sich der Knechtschaft von Buchstaben unterwirft und damit eine Knechtschaft gegen eine andere vertauscht. Radikalität aber hat ihren Grund in der Freiheit und lebt aus ihr.

Der Theologe und Judaist Hanspeter Ernst ist Geschäftsleiter der Stiftung Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum, Islam.