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Beim Essen Erkenntnisse sammeln   

Peter Zürn zum Evangelium an Fronleichnam: Lk 9,11b–17 SKZ 20-21/2010

Eine Epoche der Kirchengeschichte neigt sich dem Ende zu. Die Zukunft ist offen. Wie gehen wir mit den neuen Herausforderungen um?

«was in den Schriften geschrieben steht»

Vor Lk 9,11-17 wird erzählt, dass Jesus die Zwölf zu sich ruft und «ihnen die Kraft und die Vollmacht [gibt], alle Dämonen auszutreiben und die Kranken gesund zu machen» (Lk 9,1). Sie erleben ihre neuen Möglichkeiten, verkünden das Evangelium und heilen überall die Kranken (9,6b). Ohne Vorratstasche, ohne Brot und ohne Geld waren sie geschickt worden (9,3). Niemand ist dabei verhungert, also sind sie offenbar unterwegs Menschen begegnet, die sie bei sich aufnahmen. Dann kommen sie zurück und erzählen alles, was sie getan hatten (9,10a). Ich stelle mir vor, wie sie hier alle durcheinanderreden, unendlich viel zu erzählen haben, noch ganz benommen, aber auch begeistert sind von all dem, was ihnen in der Beziehung zu anderen Menschen möglich geworden ist. Der Wunsch nach Ruhe (9,10b) ist verständlich, wird aber nicht erfüllt. Sie selbst hatten ja dafür gesorgt, dass man von ihnen spricht. Jesus entlastet sie, insofern er jetzt tut, was sie zuvor getan haben: vom Reich Gottes reden und alle heilen, die Hilfe brauchen.
Als dieser erfüllte Tag «zur Neige geht» (9,12), steht noch Entscheidendes bevor. Genau wie an einer anderen Stelle im Lukasevangelium. «Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend und der Tag hat sich schon geneigt», bitten die namenlose Jüngerin (was spricht dagegen?) und der Jünger Kleopas den Fremden, der sie auf dem Weg nach Emmaus begleitet hatte.1 Die beiden Geschichten, in denen der Tag sich neigt, stehen in einer spannungsvollen Beziehung zueinander. Sie kommentieren sich gegenseitig. Aus der Sicht der Jüngerinnen und Jünger – und damit wohl auch aus der Sicht der Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums – ist die Emmausgeschichte die Gegengeschichte zu Lk 9: Am abgelegenen Ort in der Nähe der Stadt Betsaida wollen sie die Menschen wegschicken, die zu ihnen gekommen waren. In Emmaus laden sie den Fremden ein, der mit ihnen unterwegs war.
Gleichzeitig haben die Geschichten etwas gemeinsam: die Schwierigkeit, Vergangenheit und Gegenwart sinnvoll und handlungsleitend miteinander zu verknüpfen. In Lk 9 kommen die Zwölf aus der Erfahrung der Fülle und des Gelingens, können aber dann diese Erfahrung nicht mit der neuen Herausforderung der hungrigen Menschen verbinden. Die Zwei auf dem Weg nach Emmaus kommen aus der Erfahrung des Verlustes, der brutalen Zerstörung all ihrer Hoffnungen. Ausserdem sind sie in Aufregung über das, was einige Frauen aus ihrem Kreis erzählten (24,21.23). Vermutlich haben alle im Kreis durcheinandergeredet, noch ganz benommen, aber auch begeistert. Auch sie können all das nicht sinnvoll miteinander verbinden. Und sie können es schon gar nicht mit der Tradition verknüpfen, aus der heraus sie leben und glauben. Dafür brauchen sie Hilfe und Anleitung. Und bekommen sie: «Jesus legte ihnen dar, ausgehend von Mose und den Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht» (Lk 24,27). Diese Bibelauslegung, dieser Durchgang durch die gesamte Schrift, die Suche nach Bezügen und Beziehungen, mündet ein in das gemeinsame Essen. Das Brechen und Teilen des Brotes in der Beziehung zu Gott, wie sie im Lobpreis zum Ausdruck kommt (24,30), verkörpert gleichsam die Schriftauslegung. Schriftauslegung und Brotbrechen zusammen führen zu Erkenntnis.
Findet auch in Lk 9 die Verknüpfung der Erfahrungen mit der Tradition, also Schriftauslegung statt? Sie geschieht u. a. in den Zahlenangaben des Textes. Von 5 Broten und 2 Fischen ist die Rede. Diese Zahlen haben in der jüdischen Tradition eine ganz bestimmte Bedeutung. Die «5» steht für die 5 Bücher Mose, die Tora, das Gesetz oder besser: die Weisung zum Leben. Die Tora ist Weisung für das Zusammenleben von freien (aus der Sklaverei befreiten) Menschen und für die Beziehung des Volkes von Befreiten zu Gott. Die «2» steht für die 2 Tafeln des Dekalogs, des Zehnwortes, der Zehn Gebote. Nach der im Judentum tradierten Anordnung der Gebote geht es auf der ersten Tafel um die Beziehung von Menschen zu Gott. Auf der zweiten Tafel geht es um die Beziehungen zwischen Menschen. Die Zehn Gebote verdichten die Tora. Die 5 Bücher und die 2 Tafeln bringen verdichtet die gesamte Schrift ins Spiel. Die 5 Brote und die 2 Fische verweisen auf die Schrift und verkörpern sie. Lukas verbindet die «5» und die «2» noch mit der «12». Welche Erkenntnisse sich daraus ergeben, lesen Sie unten.
Die Bibel verbindet Brot und Wort Gottes miteinander. «Er [Gott] wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur vom Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht» (Dtn 8,3 zitiert in Lk/Mt 4,4). Dtn 8,3 bringt auch explizit das Essen (sammeln) mit Erkenntnis in Verbindung. Mit der Gabe des Manna in der Wüste (Ex 16) ist Schriftauslegung und Gotteserkenntnis verbunden: «Sechs Tage dürft ihr es [das Manna] sammeln, am siebten Tag ist Sabbat; da findet ihr nichts (…). Ihr seht, der Herr hat euch den Sabbat gegeben; daher gibt er euch am sechsten Tag Brot für zwei Tage (…). Das Volk ruhte also am siebten Tag» (Ex 16,26-30). Die Erzählung vom Manna legt die Schöpfungserzählung von Gen 1 aus. Die Gabe des Manna selbst ist eine Erinnerung an die Schöpfungsordnung Gottes, in der das Essen nicht im Schweisse des Angesichts erworben werden muss. Im Sabbat wird die Schöpfungsordnung in Zeit und Raum erfahrbar. Die Menschen sind Gottes Ebenbilder, wenn sie am siebten Tage ruhen (vgl. Ex 16,30 und Gen 2,2).

Mit Lukas im Gespräch

Der Tag geht zur Neige, aber 12 Körbe füllen sich (9,17). 5 Brote und 2 Fische mit Blick auf den Himmel geteilt ergeben eine Fülle, an der alle satt werden und bei der noch 12 Körbe übrig bleiben. Darin steckt eine mögliche Erkenntnis für die Zwölf und die Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums: Was wir bisher erlebt haben, unsere neuen, heilsamen Möglichkeiten in der Beziehung zueinander, das war noch längst nicht alles. Uns ist noch viel mehr verheissen, es ist noch viel mehr möglich. In den 12 Körben sollen sich die Zwölf erkennen. Die Zahl «12» steht in der biblischen Tradition für die 12 Stämme Israels. Die 12 Stämme sind Ausdruck für die Gesamtheit des Volkes Gottes, für die Fülle derer, die zu diesem Volk gehören. Lukas erzählt, wie dieses Volk entsteht: durch das Teilen der Schrift, durch das gemeinsame Aneignen der Weisung Gottes zum Leben. Und Lukas zeichnet ein Bild von diesem Volk. Es ist ein Bild der Fülle, nicht der Begrenzung. Das ist ein grosses Bild für das real existierende Volk Gottes – eine Generation nach der Zerstörung des Tempels. Wie der Tag in den Geschichten hat sich eine Epoche in der Geschichte geneigt. Viele Hoffnungen sind zerstört. Die Zukunft ist offen. Es wird schon über sie gesprochen. Lukas hofft darauf, dass im Teilen der Schrift alle satt werden; dass es möglich ist, als gemeinsames Volk Gottes verbunden zu bleiben und nicht die Zersplitterung in konkurrenzierende und sich bekämpfende Gruppen die Zukunft bestimmt.


1 Zur Bedeutung der Emmauserzählung für das Lukasevangelium vgl. Peter Zürn: Brennende, begriffsstutzige Herzen in: SKZ 177 (2009), Nr. 47, 803-806.