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Unterscheiden und verbunden bleiben   

Peter Zürn zum Evangelium am 3. Fastensonntag: Lk 13,1–9 SKZ 8/2010

Der Erwerb von Schlüsselqualifikationen ist in der modernen Bildungsgesellschaft von grösster Bedeutung. Eine biblische Schlüsselqualifikation heisst Unterscheidung.

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Im Lukasevangelium spielen Bäume entscheidende Rollen. Am 1. Adventsonntag (SKZ 47/2009) war der Feigenbaum, der Blätter treibt, das Zeichen für den nahen Sommer – so wie andere Zeichen für die Nähe des Reiches Gottes (Lk 22,25–36). Die Auslegung verband ihn mit dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse im Garten Eden. Heute ist die Rede von einem Feigenbaum in einem Weinberg, der seit Jahren keine Früchte trägt. Der Besitzer des Weinbergs beauftragt den Gärtner, den Baum umzuhauen. Damit wird eine dritte Stelle eingespielt, in der «schon … die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt» ist – die Gerichtspredigt Johannes des Täufers: «Jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen» (Lk 3,9). Die Bäume im Lukasevangelium verbinden offenbar das Paradies mit dem Gericht. Ins Paradies weist auch der Gärtner des Gleichnisses von Lk 13, der bereit ist, den Boden um den unfruchtbaren Baum herum aufzugraben und zu düngen. Er folgt dem Schöpfungsauftrag von Gen 2,15: «Gott der Herr nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte.»
Wie sind Paradies und Gericht, Schöpfungshandeln und Gerichtshandeln, miteinander verbunden? Ist nicht die Fähigkeit, gut und böse zu erkennen und damit unterscheiden zu können, die Grundlage jedes (Gerichts-)Urteils? Wer gut und böse unterscheiden kann, kann auch das eigene Handeln prüfen und es ändern, also umkehren. Unterscheiden ist das grundlegende Schöpfungshandeln in Gen 1. Gott scheidet Licht von Finsternis, Wasser von Wasser und Wasser vom Trockenen. Umkehr verbindet Paradies und Gericht. Umkehren ist Schöpfungshandeln und Gerichtshandeln zugleich. Der Baum im Gleichnis von Lk 13 steht ja für Menschen, die umkehren sollen. Er verkörpert – dank dem Schöpfungshandeln des Gärtners – ihre letzte Chance zur Umkehr.
Umkehr gründet in der Fähigkeit zur Unterscheidung. Unterscheidung, hebr. hawdala, ist ein zentraler Ausdruck der Tora. Er wird für die Unterscheidung von rein und unrein bzw. heilig und profan, für die Unterscheidung der Zeit in Arbeitstage und Sabbat und auch für die Auserwähltheit Israels unter den Völkern gebraucht. Unterscheiden zu können ist eine Art biblische Schlüsselqualifikation und dient dazu, das Leben aufmerksam und differenziert wahrzunehmen und zu gestalten. Jesus wendet sich in Lk 13 – in der Tradition der hawdala – nicht gegen unterscheidendes und urteilendes Verhalten an sich. Im Gegenteil. Er wendet sich gegen pauschalisierende Urteile wie dieses: Wenn Menschen etwas Schlimmes widerfährt, ist das Strafe für ihre Sünden. Deswegen fragt er: «Glaubt ihr, diese seien grössere Sünder gewesen als alle anderen, weil ihnen das widerfahren ist?» (Lk 13,2). Das pauschale Urteil wird der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht. Es gilt viel genauer hinzusehen und zu unterscheiden. Jesus sagt ein Zweites: Die hawdala, die genaue Unterscheidung, darf nicht dazu führen, Zusammenhänge aufzulösen. Gottes Schöpfungshandeln scheidet; aber Licht und Finsternis, Wasser und Trockenes sind und bleiben Teil der Schöpfung. Gleiches gilt für die anderen biblischen Unterscheidungen: rein und unrein, heilig und profan, die sechs Tage und der Schabbat, Israel und die Völker sind Teil der Schöpfungs- und Lebensordnung Gottes. Und sind miteinander verbunden. Das überträgt Jesus auf das Gerichtshandeln: Urteilt nicht pauschal und trennt euer eigenes Leben nicht von denen ab, über die ihr urteilt. Ihr seid mit ihnen verbunden, ihr Schicksal berührt auch eures. «Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr ebenso zugrunde gehen» (13,3).

Mit Lukas im Gespräch

Das Evangelium beginnt mit dem Bericht von Galiläern, die Pilatus beim Opfern ermorden liess. Bei Josefus finden sich Belege für Gewalttaten des Pilatus gegen jüdische Gruppen. Keine davon passt aber genau zu den hier geschilderten Vorgängen. Das spricht aber nicht gegen ihre Historizität. Im Tempel mit seinen Menschenmassen konnten leicht Unruhen und blutige Gegenreaktionen entstehen. Mit dem Ausdruck «Galiläer» ruft Lukas etwas in Erinnerung: den Aufstand gegen die römische Besatzung unter Führung von Judas, dem Galiläer. Er lag zurzeit Jesu zwar bereits dreissig Jahre zurück, aber damals entstand die Bewegung der Zeloten, die seitdem mit militärischen Aktionen gegen die Römer vorging. Die Anhänger des Judas wurden als «Galiläer» bezeichnet und der Ausdruck hatte seitdem den Beigeschmack «Unruhestifter» und «Aufständische». Lukas weiss darum, dass sich die Guerillaaktionen der Zeloten zum Krieg ausgeweitet hatten und um seine katastrophalen Folgen. Es weiss auch um den blutigen innerjüdischen Bürgerkrieg in dieser Zeit. Und um die Versuche, die Katastrophe des Krieges als Strafe Gottes für begangene Sünden zu verstehen. Bereits die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier wurde so gedeutet. Die Deutung erwies sich damals offenbar als hilfreich, auch wenn sie innerbiblisch nicht unwidersprochen blieb. Nach dem Jahr 70 drohte das Auseinanderbrechen des Volkes Israel in verschiedene Gruppen, die sich gegenseitig die Schuld für die Katastrophe zuschoben. Das Christentum, das aus den innerjüdischen Auseinandersetzungen dieser Zeit hervorging, verstand die Zerstörung Jerusalems als Strafgericht Gottes gegen «die Juden», die Jesus nicht als Messias anerkennen wollten. Lukas setzt sich mit solchen Vorstellungen auseinander und grenzt sich unter Berufung auf Jesus klar davon ab. Die Verurteilung einzelner Gruppen ist nicht sinnvoll – die Umkehr des ganzen Volkes ist notwendig und notwendend. Darin liegt die Zukunft des Volkes Gottes. In der Umkehr aller setzt sich das Schöpfungs- und Gerichtshandeln Gottes und der Menschen fort, das unterscheidet und dabei doch in Verbindung bleibt.
Die Situation zur Zeit des Lukasevangeliums ist offenbar prekär, das macht das Feigenbaumgleichnis deutlich. Seit dem Krieg sind bereits etliche Jahre vergangen, ohne dass Fruchtbares für die gemeinsame Zukunft von Feigenbäumen und Weinreben entstanden ist. Zwar dienen Feigenbäume den Reben, die sich an den Stämmen hinauf ranken können. Aber zugleich beanspruchen sie mit ihren kräftigen Wurzeln viel Nahrung und saugen den Boden aus. Macht es wirklich noch Sinn, an der gemeinsamen Zukunft festzuhalten? Wäre es nicht besser, sich von den Feigenbäumen zu trennen, damit wenigstens die Weinstöcke überleben können? Das letzte Wort im Text hat der Gärtner, der Gottes Schöpfungsauftrag ausführt – allerdings nur «dieses Jahr noch» (Lk 13,8). Lukas gibt die Hoffnung aber noch nicht auf. Im nächsten Text erzählt er von der Heilung einer verkrümmten Frau, die 18 Jahre (!) lang von einem Dämon geplagt wurde.