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«Es geschah in den Tagen...»   

Hanspeter Ernst zum Evangelium in der Heiligen Nacht: Lk 2,1–14

in: SKZ 50/2009

Stille Nacht … O du fröhliche … Zu Betlehem ge … Jingle Bells … Wer in den letzten Tagen eingekauft hat, konnte sich diesen Melodien nur schwer entziehen, die ihn, die sie so richtig zum Einkaufen animieren sollten. Diese allgegenwärtige Beschallung füllt die Ohren und macht müde.

«...was in den Schriften geschrieben steht»

Daher wird der Paukenschlag, mit dem der Bericht über die Geburt Jesu beginnt, kaum mehr als solcher wahrgenommen. «Es geschah in den Tagen!» (Lk 2,1), eine sprachliche Wendung, die sich noch zweimal findet: in Vers 6 (Geburt) und Vers 15 (Engel verlassen die Hirten, und die Hirten beschliessen, sich auf den Weg zu machen). Es empfiehlt sich deshalb, den ganzen biblischen Bericht zu lesen und nicht nur wie in der Leseordnung vorgesehen bis zu Vers 14, und es empfiehlt sich ferner, nicht die Einheitsübersetzung zu gebrauchen, welche – offenbar um der besseren Verständlichkeit wegen – auf diese Textsignale verzichtet. Eine hermeneutische rabbinische Regel besagt, dass überall, wo es heisst «es geschah in den Tagen» ein Unglück folgt; heisst es indes nur «und es geschah», dann kann es auch auf ein gutes Ereignis hinweisen, wie zum Beispiel im Schöpfungsbericht.

Was also «geschah in den Tagen» (Lk 2,1). Es wird ein Gebot von Kaiser Augustus erlassen, dass die ganze Welt sich einschreiben muss. Das heisst für die Untertanen: Sich auf den Weg machen, um sich einschreiben zu lassen. Das Edikt von Kaiser Augustus setzt die ganze Welt in Bewegung. Die Totalität seiner Herrschaft erfasst alle (viermal wird in den Versen 1–5 das Wort «einschreiben» verwendet), von der ganzen Welt bis hin zu Josef und seiner Frau. Man hat zu gehen. Hier der Kaiser, der in Rom sitzt und der via Syrien sein Macht in Palästina ausübt, dort Josef und die schwangere Maria, die er gehen macht. Lukas baut einen Gegensatz auf. Und vertieft ihn noch, indem er mit Betlehem, der Stadt Davids, der römischen Dynastie jene von David gegenüberstellt.

Historisch gab es keinen allgemeinen Zensus unter Augustus. Aber ein Zensus fand statt unter Quirinius in den Jahren 6/7 unserer Zeitrechnung. Aus der Rede von Rabban Gamaliel in der Apostelgeschichte geht hervor, dass diese als einschneidendes und negatives Ereignis ins historische Gedächtnis Israels Eingang fand (vgl. Apg 7,35). Historisch ist, dass man sich an seinem Wohn- und Arbeitsort eintragen musste, also nicht, wie das von Lukas beschrieben wird, an seinem Geburtsort. Offenbar aber lag Lukas in seinem Bericht etwas Anderes als historische Genauigkeit am Herzen, etwas, das keineswegs weniger historisch sein musste: Dem allmächtigen Kaiser in Rom, dem Gottessohn, wird ein anderer Gottessohn gegenübergestellt. Einer, der Israel anders zählen wird als der Kaiser dies tut – denn, auch daran sei erinnert, David wurde bestraft, als er das Volk Israel zählen wollte (2 Sam 24); und einer, der die Menschen nicht zu Objekten seines Willens degradiert, «sie gehen macht», sondern der sich an sie als freie Subjekte wendet.

«Es geschah» (Lk 2,6–14): Hier wird beschrieben, wie sich die Tage Marias erfüllten, wie sie ihren Sohn, den Erstgeborenen gebar, ihn in Windeln wickelte und in eine Krippe legte – und gleichsam als Verstehenshilfe an die Lesenden erklärt Lukas: Denn in der Herberge war kein Ort für sie. Und weiter wird gesagt, dass Hirten auf dem offenen Felde waren, wie sie von den Engeln überrascht wurden und wie diese ihnen das Geschehen verkündeten: «Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird: Euch wurde heute der Retter geboren, der Gesalbte, der Herr, in der Stadt Davids. Und dies sei euch das Zeichen: Ihr werdet ein neugeborenes Kind finden, das in Windeln gewickelt ist und in einer Futterkrippe liegt.» Es folgen der Chor der Engel und der Lobpreis.

Die Geburt Jesu wäre eine ganz gewöhnliche Geburt, würde die Botschaft der Engel fehlen. So aber ist klar, dass es sich um den Messias handelt. Und damit ist für die Hörer/innen des Berichtes auch klar, weshalb Hirten eine Rolle spielen: David wurde von den Schafen weggeholt, um von Samuel zum König gesalbt zu werden. Die Welt der Hirten und der Schafe gehört zur messianischen Staffage. Es handelt sich bei den Hirten also nicht einfach um eine am Rande stehende, arme Volksgruppe. Für Lukas war viel wichtiger, dass die auf offenem Felde sind. Wie auch der Hinweis wichtig ist, dass Jesus keinen Ort, keinen Platz in der Herberge hatte. Es braucht diese Nicht-Orte (griechisch: ou topos, davon «Utopie»), dieses zwischen den Orten, um sich gegen jede Vereinnahmung durch den Ort zu wehren. Die Orte des Kaisers sind fest und bekannt: Rom, Syrien. Nach ihnen hat man sich zu richten. Der Ort des Messias ist derjenige des Dazwischen so wie die Offenbarung Gottes am Berge Sinai letztlich auch an einem Zwischenort geschah.

Das Dazwischen-Sein wird noch einmal betont durch das Zeichen: Es ist das Kind in Windeln gewickelt. Nun ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Kinder gewickelt werden. Umso signifikanter deshalb, dass Windeln gleich zweimal genannt werden. Könnte man das erste Mal noch darüber hinweglesen, so nicht beim zweiten Mal. In Ez 16 wird Jerusalem als Findelkind beschrieben, das bei seiner Geburt ausgesetzt wurde: «Und bei deiner Geburt … wurdest du nicht in Windeln gewickelt» (4). Gott ist es dann, der sich dieses Kindes erbarmt. Könnten also diese Windeln nicht ein Hinweis darauf sein, dass Gott sich erneut Israels erbarmt?

«Und es geschah» zum Dritten: Hier wird beschrieben, wie die Hirten sich aufmachten, «um das Wort zu sehen, das geschehen ist». Die Formulierung ist auffällig: Sie sagen nicht, «um das Kind zu sehen», sondern, «um das Wort zu sehen, das geschehen ist». Folgerichtig heisst es als sie das Kind gesehen hatten, dass sie das «Wort ausbreiteten, das ihnen gesagt worden war». Es ist das Wort, das sie in Bewegung setzt. Damit ist ein Grundanliegen der Hebräischen Bibel insgesamt getroffen: Das Wort, das geschieht. Das so ist, dass die Menschen aufbrechen.

Mit Lukas lesen

Die Geschichte des Lukas ist voller Anspielungen und Gegensätze. Einen dieser Gegensätze möchte ich herausgreifen: Der Kaiser in Rom «macht die Leute gehen». Er bestimmt, dass sie zu gehen haben. Dagegen befiehlt den Hirten niemand, dass sie gehen sollten. Sie fassen diesen Entschluss selbst. Sie tun es aus sich heraus. Dieses Gehen ist der Anfang eines Weges, so wie das Gehen für Abraham zum Beginn eines Weges wurde (Gen 12). Sie gehen aufgrund des Wortes, das ihnen sagt: Ihr werdet finden. Es heisst nicht, dass sie suchen müssten. Es heisst nur: Ihr werdet finden. Wenn es so einfach ist, mag sich vielleicht der/die eine oder der/die andere Leser/in sich fragen, braucht es dann so viele Anspielungen im Text, so viele Hintergründe? – Dazu kann ich nur sagen: Weil das Gehen verlangt, seine eigenen Bilder in Frage zu stellen. Wie kann dies anders geschehen, als wenn die Bilder gebrochen werden.

Der Theologe und Judaist Hanspeter Ernst ist Geschäftsleiter der Stiftung Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum, Islam.