Wir beraten

Kamel und Nadelöhr   

Peter Zürn zum Bibelsonntag 2009, SKZ 45/2009

Das Schweizerische Katholische Bibelwerk und die Schweizerische Bibelgesellschaft laden alle Gemeinden ein, einmal jährlich einen Bibelsonntag zu gestalten, und schlagen als Termin den 15. November vor. Sie haben dazu Ökumenische Unterlagen erarbeitet und an alle Gemeinden verschickt.» Diese Nachricht lesen Sie jedes Jahr um diese Zeit und an dieser Stelle. Der Bibelsonntag und die Unterlagen dazu sind eine bewährte Tradition in den Schweizer Kirchen.1

Max Rüedi und der Bibelsonntag

Auffällig anders ist in diesem Jahr das Titelbild der Unterlagen. Es zeigt eine Fadenzeichnung des Zürcher Künstlers Max Rüedi. Ein Faden zieht sich durchs ganze Bild, nimmt die Form eines Kamels an, geht durch ein Nadelöhr und wird zur Geisttaube. Die Fadenzeichnung spielt mit zwei zentralen Aussagen des Bibeltextes zum Bibelsonntag: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt» und «Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich» (Lk 18,25.27). Die Sätze stehen sich provokativ gegenüber, im Bibeltext selbst wird die Spannung zwischen ihnen letztlich nicht aufgelöst. Bei den Leuten, die sie hören, lösen sie Fragen aus (und starke Gefühle, auch wenn das Lukasevangelium sie nicht benennt – ganz anders als die Parallelstellen bei Matthäus und Markus). Das hat sich seit den biblischen Zeiten bis heute nicht geändert. Beide Sätze sind sprichwörtlich geworden und in vielen Köpfen präsent. Die Werbung benutzt das Motiv immer wieder. Bei der Industriemesse in Hannover 2006 zeigte ein Unternehmen eine Nähnadel mit einer Öse von 0,3 Millimeter Dicke, durch die ein Kamel ging, um die Präzisionsarbeit eines Lasers zu demonstrieren.
Umso auffälliger ist es, dass das Sprachbild vom Kamel und dem Nadelöhr kaum einmal als gemaltes Bild an Kirchenwänden auftaucht. Eines der wenigen Beispiele dafür hat wieder mit Max Rüedi zu tun. Er malte 1974 ein 2,6 x 1,5 m grosses Portalbild für den Eingang in den Kirchengemeindesaal von St. Martin in Zürich-Fluntern. Das Bild liegt als Postkarte den Bibelsonntagsunterlagen 2009 bei. Gerade als Bild am Eingang zu einem kirchlichen Gebäude, als Einstimmung und Vorbereitung der Eintretenden, bringt es die provokative Spannung des Textes drastisch zum Ausdruck.

Das jüdische Evangelium nach Lukas

Der Bibelsonntag lenkt den Blick voraus auf das kommende Lesejahr C mit dem Lukasevangelium im Zentrum. Die Bibelsonntagsperikope, in der vom Kamel, vom Nadelöhr und von den Möglichkeiten Gottes die Rede ist, wird in allen drei synoptischen Evangelien erzählt. Welches sind die Besonderheiten der lukanischen Fassung im Unterschied zur Version bei Matthäus (19,16–26) und Markus (10,17–31)? Sie sollen das Lukasevangelium als jüdische Schrift und den Autor als Judenchristen kenntlich machen. Das mag überraschen, gilt doch das Lukasevangelium als das heidenchristliche Evangelium par excellence. Peter von der Osten-Sacken hat aber bereits 1984 in überzeugender Weise Lukas den Judenchristen als Autor des Evangeliums vorgestellt.2 Und Kerstin Schiffner gibt ihrer Dissertation von 2008 den Titel «Lukas liest Exodus».3 Sie zeigt darin das Lukasevangelium als «Exoduslektüre unter messianischen Vorzeichen» im Kontext vieler anderer jüdischer Relecturen des Exodus. Das Lukasevangelium mit Blick auf seine Verwurzelung im Judentum zu lesen, ist eine lohnenswerte bibelpastorale Perspektive für das kommende Lesejahr.

Grundregeln einer solidarischen Gesellschaft

Schauen wir uns die Perikope vom Bibelsonntag genauer an: Alle drei Evangelien erzählen von der Begegnung zwischen Jesus und einem Mann. Sie qualifizieren diesen Mann aber unterschiedlich. Matthäus stellt seine Jugend heraus (19,20) und Markus betont die tiefe persönliche Beziehung zwischen ihm und Jesus (10,21). Für Lukas dagegen ist der Mann ein Archon, ein «führender Mann», also eine Person in leitender Stellung. Der Kontext legt nahe, dass es sich um eine einflussreiche Position in der jüdischen Gesellschaft handelt. Damit geht es bei Lukas um mehr als um die persönliche Frage eines Mannes. Es geht auch um mehr als um die Frage nach dem Zugang von Reichen zum Reich Gottes. Es geht um eine Überlebensfrage des Volkes Israel. Gefragt wird nach der Solidarität innerhalb des Volkes Gottes, wie sie im Zehnwort (Dekalog) entfaltet wurde. Jesus ruft ja die sozialen, zwischenmenschlichen Weisungen des Dekalogs in Erinnerung. Es sind die Grundregeln für das gerechte Zusammenleben innerhalb des Volkes Israel. Der Dekalog richtet sich ja ausdrücklich in erster Linie an die führenden Männer innerhalb des Volkes, die durch ihren Besitz und ihre Stellung (z. B. als Vorstand des Hauses) besondere Verantwortung für alle anderen tragen. Sie sollen ihre Macht nicht zum Schaden anderer missbrauchen.

Ewiges Leben

Doch in der gegenwärtigen Situation Jesu und des Lukasevangeliums reicht diese Form der Solidarität nicht mehr aus. In der jüdischen Krise des 1. Jahrhunderts, die in der Katastrophe des Krieges gegen die römischen Besatzungstruppen ihren Tiefpunkt findet, braucht es mehr, um das Volk Israel am Leben zu erhalten. Und nur, wenn das Volk Israel als Volk Gottes überlebt, hat auch der jüdische Archon eine Zukunft und die Hoffnung auf das ewige Leben. Aus der individuellen Frage, was ich tun muss, um das ewige Leben zu gewinnen, wird die zutiefst biblische soziale Frage, was die Gemeinschaft braucht, um leben zu können. Was braucht das Volk angesichts der Folgen des Krieges, etwa der Flüchtlinge, die Unterstützung in den jüdischen Gemeinden überall im Römischen Reich suchen? Die Frage wird in allen drei Evangelien gestellt. Im Matthäus- und im Markusevangelium geschieht dies im Kreis Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger, zu denen der junge bzw. geliebte Mann hinzutritt. Nachdem der Mann weggegangen ist, wird dort weiter über diese Frage gesprochen.

Eine offene Frage von öffentlichem Interesse

Das Lukasevangelium stellt eine grössere Öffentlichkeit her. Es ist die Rede von «Leuten, die das alles hören» (18,26). Bei Lukas geht niemand weg. Noch ist nichts entschieden. Wie die Überlebensfrage des Volkes beantwortet wird, ist noch offen. Das Lukasevangelium bewahrt noch die Hoffnung auf die Solidarität innerhalb des Volkes Israel, auf die Solidarität der Reichen und Führenden gegenüber den Armen und Einflusslosen. Mehr noch: Petrus spricht im Lukasevangelium nicht als einer der Jünger, sondern als einer der «Leute, die das hörten». Er erinnert daran, dass Menschen ihr Eigentum verlassen haben und den Weg zum Reich Gottes gegangen sind. Vermutlich erinnert Lukas seine Umgebung daran, dass die Solidarität des Volkes Israel in der Diaspora, der Zerstreuung im Römischen Reich, durchaus spürbar war angesichts der Opfer des Krieges. Dass eine Solidarität, die die Grenzen von Verwandtschaft und Besitz gesprengt hat, in den jüdischen Gemeinden, die Flüchtlinge aufnahmen, gelebt wurde. Aber ist das genug angesichts der Dimensionen dieser Krise? Lässt sich wieder verbinden, was in diesem katastrophalen Jahrhundert zerbrochen ist? Die Fragen aus der Zeit des Lukasevangeliums berühren hier die Fragen unserer Gegenwart. Und die Antwort: Für Menschen ist das unmöglich. Ich glaube mit Jesus und Lukas, dass es für Gott möglich ist.

Spendenprojekt zum Bibelsonntag

«Yapak» (Schritte) heisst ein Pastoralprogramm der Prälatur Infanta auf den Philippinen. Das Bibelteilen ist dort der Ausgangspunkt für alles gemeinsame Feiern, Reflektieren und Handeln. Das Bibelwerk empfiehlt dieses vom Bischof unterstützte Basis-Projekt besonders. Mehr dazu unter www.bibelwerk.ch

1 Die Unterlagen können als pdf heruntergeladen werden unter www.bibelwerk.ch Klicken Sie unter «Wir beraten und informieren» auf «Bibelsonntag».
2 Peter von der Osten-Sacken: Lukas der Judenchrist. Der Autor des Evangeliums in: Entschluss 39 1984, 8 f.
3 Kerstin Schiffner: Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre. Stuttgart 2008.