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Der leidende Gerechte   

André Flury-Schölch zur Lesung am 25. Sonntag im Jahreskreis SKZ 37/2009

Alttestamentliche Lesung: Weish 2,1a.12.17–20
Evangelium: Mk 9,30–37

«Leiden» ist für viele Menschen – gerade auch im kirchlichen Kontext – ein schwieriges Wort: Zuviel schon wurde «Leiden um des Leidens willen» verlangt; zuviel wurde «Leiden» gleichgesetzt mit «Sich-Ducken», «Sich-Stillhalten», gegen Unrecht nicht Aufbegehren; zuviel wurde «Leiden» den Frauen zugewiesen im Sinne eines «demütigen Ertragens» ihres «Schicksals». Das biblische Reden vom «Leiden» und vom «leidenden Gerechten» hat jedoch ganz andere Bedeutungen und Zusammenhänge. Es ist für viele atl. Schriften sowie für Jesus und die Deutung seines Lebens und Sterbens zentral.1

Mit Israel lesen

Wohl in allen Religionen ist der Glaube und die Vorstellung präsent, dass ein positives Verhalten gegenüber der Gottheit / den Gottheiten und gegenüber den Mitmenschen zum Guten führt, dass einem – modern gesprochen – das religiöse, gläubige Leben «etwas bringt», und zwar nicht etwas Oberflächliches, z. B. bloss Materielles, sondern wahrhaftiges, erfülltes Leben, Gesundheit, Glück, Segen und Heil.
In der biblischen Forschung nennt man diese religiöse Überzeugung Tun-Ergehen-Zusammenhang: Sie ist aus der Erfahrung entstanden, dass sich die Taten und das Verhalten eines bestimmten Menschen nicht nur auf andere Menschen auswirken, sondern ebenso auch zurückwirken auf diesen Menschen. Als Gerechtigkeit wird dabei empfunden, wenn gute Taten sich gut / segensreich auf den Täter auswirken und schlechte Taten schlecht / fluchbringend (vgl. Dtn 28; Spr 11,5 f.; 19,16). Dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang wird als von Gott gewollt und von Gott gewirkt geglaubt: Gott wirkt im Leben der Menschen und in der Geschichte, Gott hört z. B. das Schreien der Unterdrückten, Gott erbarmt sich ihrer und führt sie in die Freiheit, währenddem die Unterdrücker zur Rechenschaft gezogen und der gerechten Strafe nicht entgehen werden (vgl. Ex 3 ff.). Auch im Lesungstext wird diese Überzeugung ausgesprochen, wenn die Feinde des Gerechten sagen: «Ist der Gerechte wirklich Sohn Gottes, 2 dann nimmt sich Gott seiner an und entreisst ihn der Hand seiner Gegner» (Weish 2,18). In vielen Psalmen wird für eine solche Errettung gedankt (Ps 7; 18; 30; 56).
Doch es gibt auch die gegenteilige Erfahrung: dass es Menschen, die «gerecht» leben – d. h. in ethischer Verantwortung und in Verbundenheit mit JHWH –, äusserst schlecht ergehen kann, dass sie z. B. von Krankheiten und Unheil geplagt werden, ohne dass die Ursache dafür in ihrem Verhalten gesehen werden könnte (vgl. Hi). Und umgekehrt kann es Menschen, die frevlerisch und gottlos leben, manchmal überaus gut ergehen: Sie erfreuen sich bester Gesundheit, eines langen Lebens und haben keine materiellen Sorgen usw. (vgl. Koh 7,15–19; 8,10–15).
Solche Erfahrungen, die der Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs widersprechen, führten zur Vorstellung des «leidenden Gerechten». Sie ist schon vorexilisch belegt, gewann aber durch das babylonische Exil sowie durch die Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit in hellenistischer und römischer Zeit an Gewicht. Wenigstens zwei Zusammenhänge, in denen von «leidenden Gerechten» gesprochen wird, können unterschieden werden. Zunächst im Zusammenhang mit unergründlichem Leid: Wenn nicht ersichtlich wird, warum jemanden eine Krankheit oder ein Unglück usw. ereilt, ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang in Frage gestellt (vgl. Hi). Ein «leidender Gerechter» /
eine «leidende Gerechte» zu sein, bedeutet in dieser Situation: Festzuhalten an Gott in und trotz allem unergründlichen Leid. Sich im Leid nicht von Gott abzuwenden, sondern sein Leid Gott zuzuschreien: «Wie lange noch, JHWH, vergisst du mich ganz? Wie lange noch verbirgst du dein Gesicht vor mir? Wie lange muss ich Schmerzen ertragen in meiner Seele?…» (Ps 13,2 f.).
Eine zweite Situation ist gegeben, wenn ein Mensch um der «Sache Gottes» willen leidet: Wenn sich ein Mensch für Gottes Willen – «Recht und Gerechtigkeit» für alle – einsetzt und deshalb Widerstand, Spott und Hohn, Verfolgung, ja gar Tötung erfährt (Ps 69; 139; Jes 53; Jer 11,18–23). Diese Situation wird im Lesungstext thematisiert: Skrupel-und gottlose Machtmenschen (vgl. Weish 1,16–2,20) halten ihre Eigeninteressen für das Mass aller Dinge: «Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist; denn das Schwache erweist sich als unnütz» (Weis 2,11). Arme Gerechte, Witwen und alte Menschen werden rücksichtslos unterdrückt (vgl. 2,10). Ja mehr noch: Gerechte, die gemäss der Torah leben, sind ihnen lästig (2,12), sie werden verspottet (2,17 f.), grausam behandelt (2,19) und schliesslich – zur Abschreckung? / aus blossem Sadismus? – in den «ehrlosen Tod» getrieben (2,20).
Die Erfahrung, dass in dieser Welt so manche Frevler über gerechte Menschen triumphieren, ist ein Skandal – der in der Bibel nicht unwidersprochen bleibt: Gerade auf dem Hintergrund von leidenden Gerechten und Religionsverfolgungen3 entsteht die Hoffung und der Glaube, dass der Triumph der Gottlosen und des Todes nicht das letzte Wort hat, dass sich Gottes Gerichts- und Rettungshandeln nicht auf diese Welt beschränken, sondern sich in der kommenden Welt Gottes durchsetzen: In Weish 5 wird Gottes Rettungshandeln auch nach dem irdischen Tod des gerechten Menschen erwartet, ebenso wie Gottes richterliches Handeln am Frevler. Der Erniedrigung des Gerechten folgt seine Erhöhung bei Gott (vgl. Weish 3,1–9; Jes 24–27; 2 Makk 7).

Mit der Kirche lesen

Im NT wird das Leben und Sterben Jesu sehr stark auf dem Hintergrund dieser atl. Traditionen des leidenden Gerechten gedeutet: Jesus ist gekommen, um «alle Gerechtigkeit zu erfüllen» (Mt 3,15), und er fordert, zuerst «Gottes Reich und seine Gerechtigkeit» zu suchen (Mt 6,32). Schon in der (vor-)markinischen Passionsüberlieferung ist Jesu Tod und Auferweckung durchdrungen von der Vorstellungen des leidenden Gerechten, der zwar stirbt, aber von Gott auferweckt / erhöht wird (vgl. Mk 8,31; 9,31 u. ö.). In Lk 23,47 sagt der römische Hauptmann angesichts des Gekreuzigten: «Wahrlich, dieser Mensch war gerecht.»
Auch jene, die Jesus nachfolgen, teilen sein Geschick eines leidenden Gerechten. In vielen Bibelstellen spiegelt sich diese Erfahrung der urchristlichen Gemeinde: «Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden … Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt werdet …» (Mt 5,11 f. vgl. 10,16–33 u. ö.). Für Paulus ist die Tradition des leidenden Gerechten sowohl für seine Christologie (vgl. Röm 15,3 par. Ps 69,10), als auch für sich selbst (2 Kor 1,3–11) und die Gemeinde (1 Kor 4,6–13) wichtig. Im Jakobusbrief schliesslich wird der leidende Gerechte auf die sozial Armen und Ausgebeuteten bezogen (Jak 5,1–6; vgl. Lk 6,20–26).

1 Vgl. Lothar Ruppert: Das Skandalon eines gekreuzigten Messias und seine Überwindung mit Hilfe der geprägten Vorstellung vom leidenden Gerechten, in: Kirche und Bibel, FS Bischof E. Schlick. Paderborn 1979, 319–341; Karl Theodor Kleinknecht: Der leidende Gerechtfertigte. Die atl.-jüd. Tradition vom «leidenden Gerechten» und ihre Rezeption bei Paulus (WUNT 2/13). Tübingen 21988.
2 «Sohn Gottes» / «Söhne Gottes» wird im AT in verschiedenem Zusammenhang gebraucht, u. a. für den König (Ps 2,7; im AO sehr verbreitet); den himmlischen Hofstaat (Dtn 32,8 LXX; Hi 1,6); kollektiv für Israel (Hos 2,1; Weish 9,7; 18,13; vgl. JHWH als Vater Israels: Dtn 32,6; Mal 2,10; Jes 63,16); für einzelne Gerechte bzw. den Gerechten (Sir 4,10; Weish 2,16–18; 5,5; Jub 1,23–25).
3 Vgl. etwa die zahlreichen Kreuzigungen, von denen Josephus berichtet, u. a. während der Religionsverfolgung unter dem Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.; vgl. Ant 12:256) oder unter dem hasmonäisch-jüdischen König Alexander Jannaeos (103–76 v. Chr.), der 800 Pharisäer kreuzigen liess (Ant 13:380–381), oder unter dem Römer Titus, der nach der Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) an einem Tag 500 Kriegsgefangene kreuzigen liess (Bell 5:449–451).