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Öffentliches Plädoyer für Menschenrechte   

Peter Zürn zur Lesung am 24. Sonntag im Jahreskreis SKZ 36/2009

Alttestamentliche Lesung: Jes 50,5–9a
Evangelium: Mk 8,27–35

Jes 50,4–7, ein Ausschnitt aus dem sogenannten dritten Lied vom Gottesknecht, ist in jedem Lesejahr der Lesungstext am Palmsonntag1. Heute umfasst der Lesungstext die Verse Jes 50,5–9a. Was verändert sich dadurch? Was fällt weg? Was kommt hinzu? Was wird neu zum Zentrum des Textes? Verändert sich auch etwas durch die Verlegung des Textes auf einen «ganz gewöhnlichen» Sonntag ausserhalb der Passionszeit?

Mit Israel lesen

Mit Vers 4 fällt die Verbindung des Textes zum Morgen weg. Ausserdem das Hören und Reden eines Jüngers (besser: eines Schülers oder wie Buber und Rosenzweig übersetzen: eines Lehrlings). Auf den Text fällt jetzt also das grelle Licht des Tages und bescheint die bittere Realität von Schlägen und Misshandlungen. Die Zeit der Schulung und damit Schonung ist vorbei, der Ernst des Lebens hat begonnen.
Mit Vers 8 und dem Halbvers 9a geht der Text vor Gericht. Die Häufung von Termini aus der Rechtssprache ist auffallend.
Ins Zentrum rückt der Ausdruck «adonaj YHWH jazaor li» (Mein Herr, Gott, wird mir helfen), der in Vers 9a noch einmal wiederholt wird.
Die jüdische Auslegung hat sich mit der juristischen Dimension des Textes beschäftigt und die Parallelen zu Dtn 25,1–3 bemerkt: Beide Texte benennen einen Streitfall, das Hintreten vor Gericht und das Sprechen eines Urteils (Dtn 25,1/Jes 50,8–9). Beide erwähnen den Vollzug einer Strafe in Form von Schlägen (25,2/50,6). Dtn 25 ist darauf ausgerichtet, dass die Strafe verhältnismässig («… wie es seiner Schuld entspricht» [25,2]) und begrenzt ist: 40 Schläge (25,3). Der Talmud liest hier sogar «bis zu 40 Schläge», d. h. maximal 39 (b. Makot, 22b).
In dieser Linie liegt auch das Bemühen darum, dass die Würde des Veurteilten gewahrt bleibt. Das ist eine weitere Parallelität zum Jesajatext. In Jes 50 ist die Würde eng mit der Hilfe Gottes im Zentrum des Textes verbunden: «… darum werde ich nicht in Schande enden» (in 50,7 zweimal). In Dtn 25 hat die genaue Einhaltung der Strafobergrenze mit der Wahrung der Würde zu tun: «Vierzig Schläge … mehr nicht. Sonst könnte dein Bruder, wenn man ihm darüberhinaus noch viele Schläge gibt, in deinen Augen entehrt werden» (25,3). Rabbi Chananja ben Gam’liel betont: «Die Schrift nennt ihn die ganze Zeit über rascha (der Schuldige) … Kaum ist er jedoch durch Prügel gestraft worden, nennt ihn die Schrift ‹dein Bruder›» (Sifre zu Dtn 25,3). 2 Die verbindende Beziehung zwischen den Beteiligten im Rechtsstreit wird wieder ins Bewusstsein gerufen. Sie sind und bleiben Geschwister.
Ein Blick auf den Kontext: Dtn 25,1–3 steht am Ende einer Auflistung von Weisungen (ab Dtn 24,5), die die Einheitsübersetzung mit «Schutzmassnahmen» überschreibt. Die Tora-Weisungen dienen – ausserordentlich konkret und alltagsnah – dem Schutz der Schwachen vor der Willkür von Mächtigen. Dtn 25,1–3 regelt einen Rechtsstreit, ohne etwas über seinen Anlass zu sagen. Es kann sein, dass der Veurteilte selbst ein Mächtiger war, der seine Macht missbrauchte. In dem Moment, indem er verurteilt wird, wird er aber zu einem, der von einer stärkeren Macht abhängig ist und somit zum Schwachen, der vor der Willkür der Macht zu schützen ist.
Auch dieser Kontext wird durch die juristischen Termini in Jes 50,8–9 eingespielt. Der Gottesknecht plädiert in den Begriffen der Rechtssprache für sein Recht, sein gerechtes Anliegen und das im Angesicht von Mächtigen, die ihm Gewalt antun. Er wehrt sich nicht, weicht aber auch nicht zurück (50,5). Gegengewalt ist keine Lösung für ihn, aber er erklärt öffentlich seine Unschuld und fordert selbstbewusst und würdevoll seine Rechte ein. Der Gottesknecht beruft sich auf die juristischen Weisungen der Tora. Er beruft Gott als seinen Rechtsbeistand vor Gericht. So wie Gott auf Seiten der Schwachen steht und helfen wird, so tut es auch die Tora, die Weisung Gottes zum Leben. Menschen mit Macht und Verantwortung sind aufgefordert, es Gott gleich zu tun, der Tora zu folgen und die Schwachen zu schützen.
Der Gottesknecht erklärt der Öffentlichkeit: «Selbst, wenn ihr mich vor einen Richter brächtet, behielte ich recht. Wenn ich leide, ist es darum nicht aus Gründen der Schuld, die nicht existiert.» 3 Ich lese das in der jüdischen Tradition, in der der Gottesknecht Bild für das Volk Israel ist. Der historische Kontext von Deuterojesaja ist das Exil. Der Gottesknecht spricht sich hier stellvertretend für das ganze Volk klar dafür aus, die Zerstörung Jerusalems und das Exil nicht als Strafe Gottes für irgendwelche Sünden zu deuten. So erhalten die Aussagen von Jes 50,8–9 einen eminent theologisch-politischen Sinn. Das Leiden unter den Schlägen der Eroberer ist nicht Gottes Strafe. Israel braucht in allem Leid seine Würde und sein Vertrauen in Gott nicht aufzugeben, denn Gott, «der mich freispricht, ist nahe» (50,8).

Mit der Kirche lesen

Theologisch-politische Bedeutung haben auch die Frage Jesu «Für wen halten mich die Menschen?» (Mk 8,27) und die Antwort des Petrus: «Du bist der Messias» (8,29). Was für ein Messias will Jesus sein? Einer, der den bewaffneten Kampf gegen die römische Besatzung anführt und das Reich Gottes mit Gewalt herstellt? Oder einer, der in der Tradition des Gottesknechtes steht? Diese Fragen führen innerhalb des engsten Kreises um Jesus zu heftigsten Auseinandersetzungen (8,33). Jesus fordert dazu auf, das Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen. Diese aktiven Formulierungen stehen in der selbstbewussten Tradition des Gottesknechtes. In der Tradition des Gottesknechtes heisst das: Gewalt nicht mit Gegengewalt bekämpfen, aber auch nicht zurückweichen; sich nicht schuldig erklären, wo keine Schuld ist; die Öffentlichkeit suchen und nutzen, um die Mächtigen an Recht und Gerechtigkeit und ihre Verantwortung zu erinnern. In der Tradition des Gottesknechtes heisst das – und das ist vielleicht das Schwerste – die eigene Würde bewahren und in der vertrauensvollen Beziehung zu Gott bleiben.
Was kann dabei helfen? Nehmen wir wie beim Jesajatext auch beim Markusevangelium die folgenden Verse hinzu und gehen wir mit Petrus, der so grosse Mühe mit dem Gottesknecht Jesus bekundet, auf den Berg der (Ver-)Klärung. Petrus sieht Jesus im Gespräch mit Mose und Elija. Mose und Elija, das sind das Gesetz und die Propheten, die Heilige Schrift. Im Gespräch mit der Schrift kann das Leben und Sterben Jesu gedeutet und verstanden werden. Aus diesem Gespräch heraus kann eine Antwort gefunden werden auf die Frage, «was das sei, von den Toten auferstehen» (Mk 9,10). Jesaja legt nahe, dass sie mit Menschenwürde und Menschenrechten zu tun hat. Die Leseordnung, die den Text am Palmsonntag und an einem «ganz gewöhnlichen» Sonntag vorsieht, ist weise: In Passionszeiten wird uns verletzte Menschenwürde besonders schmerzhaft bewusst. Öffentlich für sie einzutreten ist aber eine ganz alltägliche Aufgabe.

1 Vgl. SKZ 13/2009 (S. 231), 10/2008 (S. 155) und 12/2007 (S. 194).
2 Zitiert nach Roland Gradwohl: Bibelauslegung aus jüdischen Quellen. Band 1. Stuttgart 21995, 172.
3 In den Worten von Gradwohl: Ebd., 179.