Wir beraten

Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist!   

Dieter Bauer zur Lesung am 23. Sonntag im Jahreskreis SKZ 35/2009

Alttestamentliche Lesung: Jes 35,4–7a
Evangelium: Mk 7,31–37

Bekanntlich wird am Sabbat im Synagogengottesdienst innerhalb eines Jahres die ganze Tora, werden also sämtliche 5 Bücher Mose gelesen. Und die Lesung aus den Büchern der Tora wird jeweils mit dem Zuruf an den oder die Lesende abgeschlossen: «Sei stark, sei stark, und wir wollen uns gegenseitig stark machen.» Wozu braucht es diese Stärkung?

Ich meine, dies hat vor allem damit zu tun, dass die gehörten Texte wirklich ernst genommen werden, dass damit gerechnet wird, dass sie für das eigene Leben relevant sind, dass sie sich «erfüllen» könnten …

Mit Israel lesen

Es gibt viele biblische Texte, nicht nur in der Tora, sondern vor allem auch bei den Propheten, die so etwas wie einen «Überschuss» an Verheissung haben. Dazu gehört z. B. der Text der heutigen Lesung:
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, /
auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.
Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, /
die Zunge des Stummen jauchzt auf. In der Wüste brechen Quellen hervor /
und Bäche fliessen in der Steppe.
Der glühende Sand wird zum Teich /
und das durstige Land zu sprudelnden Quellen
(Jes 35,4–7).
Man kann diese Texte rein historisch lesen, wie es uns die historisch-kritische Bibelwissenschaft gelehrt hat. Solche Lektüre gab es bereits im Judentum, etwa wenn Ibn Esra (1092–1167) davon spricht, dass dieser Text vom historischen Propheten Jesaja auf die Freude der Judäer über den Truppenabzug des Assyrerkönigs Sanherib im Jahr 701 v. Chr. Bezug nimmt. Der Nachteil solcher Bibellektüre ist, dass sie – rein historisch – zwar für uns interessant, aber für unser Leben nicht unbedingt relevant ist.

Eine andere Möglichkeit, mit solchen Texten umzugehen, ist ihre Eschatologisierung. Sie werden erst für das «Ende der Tage» relevant. Oder man kann sie spiritualisieren. Dann sind da nicht mehr konkret Blinde und Taube, sondern unsere «innere Blind- und Taubheit» gemeint, unsere inneren «Lähmungen» und «Sprachlosigkeiten». Und auch das Aufbrechen des Wassers in der Wüste wird zum «symbolischen Bild». Auch solche Lektüre hat es schon immer gegeben.

Rechnen wir heutzutage überhaupt mit der «Erfüllung» biblischer Verheissungen? Oder reicht es uns Christen, wenn wir die alttestamentlichen Verheissungen einfach als in Jesus «erfüllt» ansehen – vor fast 2000 Jahren und für uns nicht mehr relevant?

Ein Blick in die jüdische Wirkungsgeschichte unseres Textes könnte Anstoss sein, wieder ernsthaft über diesen «Überschuss» an Verheissung in der Bibel nachzudenken:

Von David Ben Gurion, dem Gründer und ersten Ministerpräsidenten des Staates Israel wird z. B. erzählt, dass auf seinem Schreibtisch im Kibbuz Sde Boqer unter der Glasplatte immer ein Blatt mit Bibelsprüchen lag, das ihn auch bei weltlichem politischen Arbeiten an Gott erinnern sollte. Einer diese Bibeltexte war Jesaja 35,1.6–9:
Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, /
die Steppe soll jubeln und blühen …

Wer sich mit diesem Mann und seinem Lebensinhalt, der Gründung einer Heimstatt für das jüdische Volk nach fast 2000 Jahren Verfolgung und Diaspora, einmal befasst hat, weiss, dass diese Worte aus der Bibel für ihn sehr konkret gemeint waren. Die Wüste zum Blühen zu bringen war nicht nur «Verheissung» für ihn (das auch), sondern konkreter Auftrag.1

«Jahrhundertelang hatten sich die Juden ihrem Schicksal, dem Schicksal eines zerstreuten, von der Gnade anderer lebenden Volkes unterworfen. Sie vertrauten auf Wunder und warteten auf den Messias. Das Vertrauen auf die eigene Kraft und das eigene Können war fast völlig verlorengegangen. (…) Die wiedererwachte Zuversicht und das Aufflammen des jüdischen Willens war, nach Jahrhunderten der Verbannung und der Diaspora, eines der grössten Wunder in der an Wundern reichen Geschichte des jüdischen Volkes. Der wiederbelebte Glaube brach (…) hervor: aus dem von neuem fühlbaren Einfluss der Bibel … .»2

Wer Ben Gurions Tagebuchaufzeichnungen liest, ist immer wieder erstaunt über seine Fähigkeit, das konkrete Alltagsgeschäft mit seiner biblischen Vision zu verbinden. Aber anders ist das Wunder der Staatsgründung Israels wahrscheinlich auch nicht zu erklären.

Und als Ministerpräsident Rabin am 8. August 1994 den ersten Grenzübergang nach Jordanien feierlich eröffnete, zitierte er wieder die selbe Passage aus dem Jesajabuch, die bereits Ben Gurion so wichtig war: Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien (Jesaja 35,1 f.). Leider muss man der Fairness halber hinzufügen, dass es sich bei der Regierungszeit des bereits ein Jahr später ermordeten Friedensnobelpreisträgers Jitzchak Rabin um eine (viel zu kurze) glückliche Zeit für Israel gehandelt hat, in der für einmal andere Prioritäten galten und das Land sich innerhalb kürzester Frist der Welt und den Nachbarn (und sich selbst!) so öffnete wie kaum je zuvor. Israel hatte zurückgefunden in die Aufbruchstimmung der Jahre vor der Staatsgründung. Und es hatte das Selbstbewusstsein eines Staates erlangt, der den Frieden jetzt «riskieren» konnte.3 Dass dazu Mut gehört, ist unbestritten. Die biblischen Visionen ernst zu nehmen und ihnen wirklich Gestalt zu geben, braucht genau diese Kraft und Stärke, die den Lesenden der Tora zugesprochen wird (s. o.). Deshalb heisst es auch in unserem Jesajatext, der im Gottesdienst übrigens unbedingt vollständig (Jes 35,1–10) gelesen werden sollte:
Macht die erschlafften Hände wieder stark
und die wankenden Knie wieder fest!
Sagt den Verzagten:
Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott! (Jes 35,3f).

Mit der Kirche lesen

Die Verheissungen der Bibel sind längst nicht alle eingelöst. Doch wo der Glaube an den Gott Israels konkret Gestalt gewinnt, da geschehen Wunder. Das ist ganz real gemeint, so real wie in dem Satz, der ebenfalls David Ben Gurion zugeschrieben wird: «Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.»
Auch das Neue Testament wird nicht müde, von diesen Wundern zu erzählen, die Jesus, das lebendige Wort Gottes, bewirkt. Im heutigen Evangelium (Mk 7,31–37) ist z. B. von der Heilung eines Taubstummen die Rede und damit von der Erfüllung der Jesajaverheissung:
auch die Ohren der Tauben sind wieder offen (…)
die Zunge des Stummen jauchzt auf (Jes 35,5 f.).
Der Schöpfergott bringt seine Welt wieder in Ordnung: Er hat alles gut gemacht (Mk 7,37; vgl. Gen 1,10 u. ö.). Zu dieser Ordnung gehört aber auch das Überlebensrecht des auserwählten Volkes. Vielleicht wäre es (nicht nur deshalb) einmal angebracht, beim Hören des «Deutschen Requiems» von Johannes Brahms nicht nur an unsere eigenen Verstorbenen oder an den eigenen Tod zu denken, sondern an unsere jüdischen Schwestern und Brüder:
Die Erlösten des Herrn werden wieder kommen, und gen Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird weg müssen (Jes 35,10).

1 Noch immer lesenwert und allen zu empfehlen, die den Palästinakonflikt einmal aus jüdischer Sicht verstehen möchten: David Ben Gurion: Israel. Der Staatsgründer erinnert sich (Fischer Taschenbuch).Frankfurt 1998 (22004). Selbstverständlich gibt es auch die Sicht der Palästinenser. Und die Vorgänge um die Staatsgründung und ihre Folgen sollen hier nicht «heiliggesprochen» werden.
2 Ebd., 14.
3 So der Herausgeber Joachim Schlör in seinem Nachwort: Ebd., 125 f.