Wir beraten

«Lass rasch emporspriessen!»   

Dieter Bauer zur Lesung am 16. Sonntag im Jahreskreis SKZ 27-28/2009

Alttestamentliche Lesung: Jer 23,1–6
Evangelium: Mk 6,30-34

Bei allem Vergleichbaren zwischen der Prophetie im Alten Orient und der biblischen Prophetie gibt es doch auch gewaltige Unterschiede (vgl. Beitrag von André Flury in dieser Ausgabe der SKZ, S. 474). Dazu gehört vor allem, dass in der Bibel auch königs- und gesellschaftskritische Prophetie überliefert wurde, was für ein gehöriges Mass an Souveränität der jüdischen Glaubensgemeinschaft spricht, geht es doch letztlich um Selbstkritik! Die christlichen Kirchen haben sich damit seit jeher viel schwerer getan.

Mit Israel lesen

So wie uns das Jeremiabuch heute vorliegt, beinhaltet es nicht nur historische Überlieferungen dieses Propheten, der am Ende des Reiches Juda gelebt und verkündet hat und dessen Nieder- und Untergang selbst miterleben musste, sondern auch Weiterschreibungen aus späterer Zeit, die Konsequenzen ziehen wollen aus der prophetischen Verkündigung. Nach der Katastrophe ist man meistens klüger. Und die Worte des Propheten, der (leider) Recht behalten hat, klingen nun ganz anders in den Ohren:
Weh den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen – Spruch des Herrn. Darum – so spricht der Herr, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt ziehe ich euch zur Rechenschaft wegen eurer bösen Taten – Spruch des Herrn (Jer 23,1 f.).
Mit den Hirten sind natürlich die Könige Judas gemeint, die nach dem «guten» Joschija (2 Kön 22,2) an der Macht waren: Joahas, Jojakim und Jojachin. Nach nur drei Monaten Regierungszeit musste letzterer miterleben, wie die Babylonier 597 v. Chr. Jerusalem eroberten und die «oberen Zehntausend» (2 Kön 24,14) zusammen mit ihm in die Gefangenschaft führten. Was haben diese Könige falsch gemacht?
Im hebräischen Text findet sich ein Wortspiel mit dem Wörtchen «suchen, sich kümmern» (hebr. paqad), das sich im Deutschen schwer wiedergeben lässt: «ihr habt sie [mein Volk resp. die Schafe] nicht gesucht, nun will ich euch (heim)suchen» oder: «… ihr habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt werde ich mich um euch kümmern …».
Der Vorwurf lautet, dass die Könige ihr Hirtenamt nicht wahrgenommen haben. Deshalb wird JHWH selbst sein Hirtenamt wahrnehmen und sich um sein Volk kümmern. Die beiden folgenden Verse sind bereits aus der Perspektive eines langjährigen Exils geschrieben:
Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide; sie sollen fruchtbar sein und sich vermehren. Ich werde für sie Hirten bestellen, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen – Spruch des Herrn (Jer 23,3 f.).
Nach Jojachin, der ins Exil verschleppt worden war, hatte der babylonische König Nebukadnezzar II. dessen Onkel Mattanja auf den Thron gesetzt und ihn in Zidkija umbenannt (2 Kön 24,17). Dieser neue Thronname bedeutet: «Gerechtigkeit (ist) JHWH». Nur: Während seiner Regierungszeit hat sich – trotz Jeremias Verkündigung – nichts gewandelt. Seine politischen Ränkespiele haben seinem Volk und seinem Reich schliesslich den endgültigen Untergang beschert: 586 v. Chr. erobern die Babylonier Jerusalem ein zweites Mal. Die Stadt wird geschleift und der Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Zidkijas Söhne werden vor seinen Augen massakriert und er selbst geblendet, damit er dieses Bild nie wieder vergessen soll (2 Kön 25,7).
Erst nach einiger Zeit keimt im fernen Babylonien wieder Hoffnung unter den Exulanten. Wenn auch die Könige in ihrem Hirtenamt versagt haben, JHWH, der wahre Hirte seines Volkes, wird sich um sie kümmern. Ob diese Hoffnung eine Hoffnung auf die Restitution des davidischen Königtums war, wissen wir nicht. Die folgenden Verse scheinen dafür zu sprechen:
Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn –, da werde ich für David einen gerechten Spross erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln, für Recht und Gerechtigkeit wird er sorgen im Land. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit (Jer 23,5 f.).
Erwartet wird so etwas wie ein «wahrer» Zidkija («Gerechtigkeit [ist] JHWH»). Er wird für sein Volk da sein und im Land für Recht und Gerechtigkeit sorgen. Dann kann das Volk sagen: JHWH ist unsere (!) Gerechtigkeit (V. 6).
Die Geschichte ist anders gelaufen. Der «wahre» Davidsspross (V. 5; vgl. Jes 11,10) ist nicht erschienen. Immer wieder wurden solche Hoffnungen enttäuscht: nach der Heimkehr aus dem Exil, nach dem Aufstand der Makkabäer, nach dem Jüdischen Krieg und zuletzt nach dem Bar Kochba-Aufstand gegen die Römer. Doch die Hoffnung wurde nicht begraben. Und so beten gläubige Jüdinnen und Juden noch heute täglich im Achtzehnbittengebet: «Den Sprössling deines Knechtes David lass rasch emporspriessen, sein Horn [d. i. seine Kraft] erhöhe durch deine Hilfe, denn auf deine Hilfe hoffen wir den ganzen Tag. Gelobt seist du, Ewiger, der das Horn [d. i. die Kraft] der Hilfe emporspriessen lässt!»1

Mit der Kirche lesen

Die katholische Leseordnung hat dem Jeremiatext als Evangelium die Markuserzählung vom Andrang der Menge um Jesus zugeordnet. Jesus – nach christlicher Tradition der «Sohn Davids» (Mk 10,48 u. ö.) und «Christus» (= Messias; Mk 1,1; 12,35 u. ö.) – wird hier als der «wahre Hirt» gezeichnet. Mit einem prophetischen Zitat – nicht aus Jer 23, sondern aus 1 Kön 22,17 (!) – wird seine mitleidige Zuwendung zum Volk hervorgehoben: Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange (Mk 6,34). Dahinter steht natürlich die prophetische Kritik an den führenden Kräften Israels zur Zeit Jesu, die lieber mit den Römern kollaborierten, als sich um gerechte Verhältnisse im Land zu kümmern.
Ist aber damit auch schon die Frage beantwortet, ob in Jesus der «Sprössling Davids» und erwartete Messias gekommen ist? Als Christ ist man natürlich versucht, diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten, hängt doch unser Glaube an dem Bekenntnis «Jesus (ist der) Christus» (Mk 1,1 u. ö.; vgl. 1 Petr 4,16).
Andererseits ist sich die christliche Überlieferung seit jeher bewusst, dass mit diesem Bekenntnis noch längst nicht das Reich Gottes angebrochen ist. Erst wo dieses christliche Bekenntnis Konsequenzen zeigt, eben in einem Engagement für Recht und Gerechtigkeit (Jer 23,5) in der Nachfolge Jesu, erweisen wir uns als «wahre Christen» und wird auch das Reich Gottes erfahrbar. Das aber ist ein langer und mühsamer Weg, der immer auch Rückschläge beinhaltet, wie die bald 2000-jährige Geschichte des Christentums zeigt. Und deshalb verstehe ich die Rabbinen, die daran festhalten, dass das Kommen des Messias keine «Heilsautomatik» beinhaltet, sondern ein Prozess ist. Rabbi Chija (2. Jh. n. Chr.) verglich das Kommen des Messias mit der langsam aufsteigenden Morgenröte. Wie diese, so werde auch die Erlösung stufenweise und erst allmählich sichtbar werden (Hohelied Rabba 4,10).

1 Aus: Sidur Sefar Emet (Jüdisches Gebetsbuch).Basel 1964, 44.