Wir beraten

Biblische Prophetie   

André Flury-Schölch zur Lesung am 15. Sonntag im Jahreskreis SKZ 27-28/2009

Alttestamentliche Lesung: Am 7,12–15
Evangelium: Mk 6,7–13

In der Alltagssprache versteht man unter einem «Propheten» jemanden, der ein Ereignis in ferner Zukunft voraussagen kann. Dieses Verständnis ist jedoch eine Eng- bzw. Irreführung, das mit den biblischen Prophetinnen und Propheten wenig zu tun hat. Die Engführung ist umso bedauerlicher, als Prophetie massgeblich zur Identität sowohl der hebräischen Bibel1 wie auch der neutestamentlich-kirchlichen Tradition2 gehört. Im Folgenden sollen daher einige Merkmale biblischer Prophetie genannt werden, wobei noch viele weitere anzufügen wären.

Mit Israel lesen

Im gesamten Alten Orient gab es zahlreiche Propheten und – womöglich noch zahlreichere! – Prophetinnen, lange bevor solche in der biblischen Tradition greifbar werden: Prophetinnen und Propheten nahmen ihre Aufgabe vor allem an Königshöfen wahr (z. T. auch an Tempeln). Sie berieten den König insbesondere bei dessen militärischen Aktionen, wobei sie ihm grösstenteils Erfolg zu verheissen hatten. Nur vereinzelt wurde gemahnt, den Kult nicht zu vernachlässigen. Gesellschaftliche und ethische Kritik scheint es nicht gegeben zu haben. Allerdings kann es auch sein, dass (unabhängige) königskritische Prophetie nicht in die Königsarchive aufgenommen, sondern vernichtet wurde und uns deshalb kaum erhalten ist.
Im Unterschied dazu spielt bei der biblisch überlieferten Prophetie die Kritik an Gesellschaft und Institutionen eine zentrale Rolle. Selbst ein Hofprophet wie Natan nimmt gegenüber dem König bei Bedarf eine kritische Stellung ein (vgl. 2 Sam 7; 12). Es ist eine Besonderheit der jüdischen Religionsgeschichte, dass ihre kanonischen Schriften nicht überwiegend Tempelprophetie (Hab; Nah; Joël) oder Hofprophetie überliefern, sondern vor allem oppositionelle Prophetie (dazu gehören Jes, Jer, Ez sowie das Zwölfprophetenbuch ausser Hab; Nah; Joël).
Historisch ist zwar kein einziger Prophet, der einem Prophetenbuch den Namen gibt, mehr fassbar. Auch gehen die Bücher selbst nicht auf den jeweiligen Propheten zurück. Sie sind vielmehr in einem jahrhundertelangen Prozess (weiter)geschrieben, ergänzt, aktualisiert und tradiert worden. Religionssoziologisch gesehen bedeutet das aber, dass in der jüdischen Religionsgemeinschaft das selbstkritische Moment einen festen Platz innehat. Es hat immer genügend viele Menschen innerhalb der Gemeinschaft gegeben, welche die Selbstkritik als wichtigen Bestandteil der Tradition angesehen haben. Denn ohne Selbstkritik wird Religion früher oder später zum Selbstbetrug.
Was kritisieren die Prophetenbücher jedoch konkret? Vereinfacht betrifft die Kritik drei Bereiche, was schon im Amosbuch3 ersichtlich ist:
1. Sozialkritik: «Hört dies, die ihr den Armen tretet und die Elenden im Land vernichtet» (Am 8,4; vgl. 4,1; 5,10). Der Protest zugunsten der Armen und Benachteiligten4 durchzieht die prophetischen Bücher wie ein roter Faden. JHWH selbst ergreift Partei für die Unterdrückten und Schwachen (Jer 49,11). Ihren Unterdrückern und Ausbeutern jedoch wird mit Gottes Zorn und Gericht gedroht. 5
2. Herrschaftskritik: Konkret kritisiert werden insbesondere machtgierige, betrügerische Fürsten und Könige mit ihren Gewalttaten und Verwüstungen (vgl. Am 3.10; Jes 1,23; Jer 22,11–17; Ez 22,6.27), habsüchtige Reiche (Am 8,4-6; Mi 2,1–11), ungerechte, bestechliche Richter (Am 5,10.12; Jes 10,1–4) sowie – aufseiten der religiösen Machthaber – egoistische, falsche Propheten (Mi 3,5–8; Jer 23,9–24; Ez 22,25) und Priester (Jer 5,31; Ez 22,26).
3. Kultkritik: Religiöser Kult und Frömmigkeit werden von biblischer Prophetie schonungslos mit Gottes Forderung nach konkret gelebter Gerechtigkeit konfrontiert: «Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen … Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser» (Am 5,21–24; vgl. 4,4 f.; Mi 6,6–8). Wenn die Gottesdienste Israels – wie alle Gottesdienste – nicht zur alltäglichen Verwirklichung von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität beitragen, so sind sie null und nichtig (Jer 7,1–15; Jes 1,10–20).
Biblische Prophetie bleibt nicht bei der analytischen, anklagenden Kritik stehen, sondern sie wird konstruktiv, indem sie Visionen entwickelt und den Gotteswillen konkretisiert:
1. Die vielfältigen prophetischen Visionen einer besseren Zukunft ermutigen zum Handeln und zur Neugestaltung der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart. Besonders hervorzuheben sind neben der Vision der sozialen Gerechtigkeit auch die Visionen der Eigenverantwortung von Generationen / Individuen (Ez 18), der Gewaltenteilung zwischen Königtum und religiösem Kult (Ez 40–48) und des Völkerfriedens (Jes 2,1–5; Mi 4,1–8; Sach 8,21 f.; 9,9 f.).
2. Die Konkretisierung des Gotteswillens hat ihren bevorzugten Ort in der Torah. Mit ihren 613 Geboten und Verboten konkretisiert sie die Forderung nach Recht und Gerechtigkeit für das alltägliche Zusammenleben. Indem nun Mose von Dtn 34,10 zum grössten Propheten aller Zeiten erkoren wird, entsteht eine enge Verknüpfung von Prophetie und Torah: Prophetie – im Sinne der Übermittlung/Offenbarung von Gottes Wort und Willen – soll immer zum torahgemässen, gerechten Tun führen.

Mit der Kirche lesen

Jesus stand mit seinem Wirken so sehr in der atl.-jüdischen prophetischen Tradition, dass ihn seine Mitmenschen überwiegend für einen Propheten hielten (vgl. Mk 8,27 f. par.; Mt 21,11). Auch die Berufung eines Zwölferkreises (Mk 3,13–19 par.) ist eine prophetische Zeichenhandlung par excellence: Wie die 12 Söhne /
Stämme Israels ganz Israel repräsentieren, sollen die Zwölf Jünger ein erneuertes Israel symbolisieren. So verwundert es nicht, dass die Aussendungsrede an die Zwölf (Mk 6,7–13) – der heutige Evangeliumstext – ebenfalls viel prophetisches Kolorit enthält:
Die gebotene Askese (V8) korrespondiert mit der Lebensweise Johannes des Täufers (vgl. Mk 1,6; 2,18; Mt 11,18 f.) – dem ntl. Propheten schlechthin. Mit der Askese wird das Vertrauen in Gottes Fürsorge betont, zu welchem auch in den Prophetenbüchern immer wieder aufgerufen wird (Jes 7,4.9; 26,4; Jer 17,7).
Der Ruf zur Umkehr (V12) ist ein immer wiederkehrendes Grundmotiv prophetischer Verkündigung (Am 4,6–11; Jes 31,6; Ez 18,32) und steht bei Mk auch am Beginn der Verkündigung Jesus (Mk 1,15).
Mit der Heilung von Kranken (V13) führen die Zwölf die Praxis Jesu weiter (vgl. Mk 1,21–2,12). Heilungen, ja selbst Totenerweckungen durch Fürbitte gehören seit alters zum prophetischen Wirken (Abraham als Prophet: Gen 20,7.17; Elija: 1 Kön 17,17–24; Elischa: 4,8–37; 5,1–27). Diese Heilungen verweisen im Hier und Jetzt auf den letztendlichen Heilswillen Gottes.

1 Einen guten und verständlichen Überblick bietet Joseph Blenkinsopp: Geschichte der Prophetie in Israel. Von den Anfängen bis zum hellenistischen Zeitalter. Stuttgart 1998.
2 Vgl. Rainer Bucher / Rainer Krockauer (Hrsg.): Prophetie in einer etablierten Kirche? Aktuelle Reflexionen über ein Prinzip kirchlicher Identität (= Werkstatt Theologie. Praxisorientierte Studien und Diskurse 1). Münster 2004.
3 Zu den politischen und sozialen Umständen vgl. SKZ 175 (2007), Nr. 37, 623.
4 Biblisch sind dies v.a. «Arme», «Fremde», «Witwen und Waise» vgl. SKZ 176 (2008), Nr. 42, 679.
5 Vgl. SKZ 176 (2008), Nr. 4, 47.