Wir beraten

Aneignen, nicht enteignen   

Peter Zürn zur Lesung an Fronleichnam SKZ 22-23/2009

Alttestamentliche Lesung: Ex 24,3–8
Evangelium: Mk 14,12–16.22–26

Christinnen und Christen, die alttestamentliche Texte lesen, stehen vor einer Herausforderung: Wie können wir uns diese Texte aneignen, ohne sie dem Judentum zu enteignen? Denn die Texte sind im Volk Israel und für das Volk Israel entstanden. Wir sind nicht die Erstadressaten/
-adressatinnen. Das Christentum hat in seiner Geschichte immer wieder Jüdisches enteignet. Die Fronleichnamslesungen führen uns zu einem neuralgischen Punkt. Die Lesart der Enteignung lautet: «Der neue Bund in Christi Blut löst den Alten Bund Gottes mit Israel ab.» Wie können wir die Texte anders, nicht enteignend lesen? Beginnen wir für einmal bei unseren eigenen Traditionen:

Mit der Kirche lesen (1)

Das Markusevangelium gibt Hinweise, wie es die Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jünger1 gelesen haben möchte: Das Leitwort in Mk 14,12–16 ist Pascha. Viermal kommt es vor. Das Mahl erinnert und vergegenwärtigt die Geschichte des Volkes Israel, die Befreiung aus Unterdrückung. Der Exodus führt dazu, dass sich das Volk Israel mit Gott verbindet, dass Gott und sein Volk einen Bund schliessen. Diesen Bundesschluss erinnert und vergegenwärtigt Mk 14,24, indem Jesus aus der Erzählung von Ex 24 zitiert und sich in diesen Bund hineinnimmt: «Dies ist mein Blut des Bundes.» Bei Markus ist nicht die Rede von einem neuen Bund – auch nicht in der Parallelstelle bei Mt 26,28. Vom neuen Bund sprechen Lk (22,20) und der 1. Brief an die Gemeinde von Korinth (11,25).2 Sie nehmen damit die Theologie des Propheten Jeremia (31,31–34)3 auf. Gott schliesst einen neuen Bund, weil der alte vom Volk gebrochen wurde. Gott bleibt seinem alten Bund treu. Der neue Bund ist die Erneuerung des Alten, die Erneuerung der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk, die im Bundesschluss am Sinai gründet. Der alte Bund ist nicht aufgelöst und gekündigt, er gilt dem Volk Israel bis heute und auf Weltzeit. Der Bund wird in Ex 24,11 mit einem Mahl abgeschlossen. Leider lässt die Leseordnung diesen Vers weg, der doch dazu anleiten würde, das Mahl Jesu so zu verstehen, dass damit der Bundesschluss am Sinai vergegenwärtigt und gefeiert wird.

Mit Israel lesen

Der Text aus Ex 24 ist äusserst dicht und vielschichtig. Ich möchte meine Lektüre mit Israel auf zwei wesentliche Worte begrenzen: Blut und Bund. Das Blut ist in der biblischen Vorstellung der Träger des Lebens. Blut ist sozusagen Ursubstanz des Lebens, ja «das Blut ist das Leben» (Dtn 12,23). Der Genuss von Blut (auch von nicht vollständig ausgeblutetem Fleisch) ist verboten, denn das Leben, das im Blut sitzt, gehört nicht in die Verfügung des Menschen. Es gehört allein Gott. Auf diesem Hintergrund ist es ein besonderes Zeichen, dass beim Bundesschluss in Ex 24 grosse Mengen von Blut gebraucht werden. Bereits vorher war einmal davon die Rede. Bei den Vorbereitungen auf den Auszug und das Paschafest wird erzählt, dass das Volk Blut an die Türen streicht, damit ihr Leben bewahrt bleibt (Ex 12,21–28). Jetzt, am Gottesberg angekommen, teilt Moses das Blut in zwei Hälften. Die eine Hälfte sprengt er auf den Altar, der für den einen Bundespartner, für Gott, steht. Die andere Hälfte des Blutes sprengt Moses auf das Volk. Beide Bundespartner werden mit dem gleichen Anteil Blut besprengt. Dass Blut auf den Altar gesprengt wird, gehört zur biblischen Kultpraxis (vgl. u. a. Lev 1,5; 3,8; 17,6; Ex 29,1). Damit wird Gott das Leben übereignet, weil es ihm ja gehört. Auch beim Bundesschluss ist das Blut Zeichen des Lebens. Das Blut verbindet Gott und sein Volk zu einer Lebensgemeinschaft. Der erneuerte Bund Jeremias ist gänzlich unblutig gedacht. Er ist ins Herz geschrieben.
Der Bund geht von Gott aus, das Ja zum Leben in Beziehung geht allem voraus. Und so verpflichtet Gott sich durch das Besprengen des Altares zuerst auf den Bund. Das Verlesen des Bundesbuches (24,7) legt Gottes Willen zum Bund fest und macht ihn nachprüfbar. Gottes Worte sind verbindlich. Danach verpflichtet sich das Volk. Zweimal wird der Akzent dabei auf das Tun der Worte gelegt (24,3 und 7). Im Tun der Worte bewahrt das Volk den Bund und bewährt sich im Dienst am Leben. Denn dazu ist es herausgerufen worden: um nicht mehr den Pharaonen dieser Welt, sondern dem Gott des Lebens zu dienen (Ex 3,12).
Wie «Pascha» das Leitwort von Mk 14,12–16 ist, so ist «kol», «alle/alles», das Leitwort von Ex 24,3–4. Fünfmal kommt es vor. Es geht nicht mehr um einzelne Worte und einzelne Menschen, hier verpflichtet sich das Volk als Gesamtheit zum Tun aller Worte. Symbolisch wird diese Gesamtheit des Volkes in den 12 Steinmalen für die 12 Stämme sichtbar (24,4). Jesus knüpft daran an, wenn er explizit mit den Zwölfen beim Paschamahl erscheint. Dadurch wird eine Besonderheit der jüdischen Gottesbeziehung deutlich, die die jüdische Theologin Judith Plaskow so ausdrückt: «Israel zu verstehen, muss immer mit der Anerkennung anfangen, dass Israel eine Gemeinschaft ist, ein Volk, nicht eine Sammlung von Individuen … Vom Sinai an wird die jüdische Beziehung zu Gott durch diese Gemeinschaft vermittelt. Der Jude/die Jüdin steht nicht als Einzelne/r vor Gott, sondern als Mitglied eines Volkes.»4
Plaskow verallgemeinert die jüdische Vorstellung, «dass das Menschsein in der Gemeinschaft geformt, genährt und erhalten wird … Mensch zu sein bedeutet … sich von allem Anfang an in einer Gemeinschaft vorzufinden – oder, wie das in der heutigen Welt oft der Fall ist, in einer Vielzahl von Gemeinschaften. Sich als Mensch zu entfalten, bedeutet, ein Gefühl für sich selbst in Beziehung zu anderen zu erlangen und sich aus den gemeinschaftlichen Erbteilen verschiedenes kritisch anzueignen.»5 Die Verschiedenheit dieser Aneignung ist zu achten und nicht abzuwerten, dafür sieht Plaskow auch im Judentum noch grossen Veränderungsbedarf – ein Beispiel für eine aktuelle innerjüdische Auseinandersetzung.

Mit der Kirche lesen (2)

Mir scheinen Plaskows Überlegungen hilfreich für die Frage, wie wir Christinnen und Christen uns jüdische Texte aneignen können ohne sie zu enteignen. Wir sind herausgefordert, «aus den gemeinschaftlichen Erbteilen verschiedenes kritisch anzueignen» und dabei die Verschiedenheit der anderen Aneignungen zu achten. Wieder können wir dafür bei unseren eigenen Traditionen beginnen. Mk spricht mit Zitat aus Ex 24 vom Blut des Bundes, «das für viele vergossen wird». Damit weitet er den Bund aus, er sprengt das Blut gleichsam über eine grössere Gemeinschaft, auch über die Heiden. Mt nimmt das auf, Lk spricht seine überwiegend heidenchristliche Gemeinde direkt an («für euch vergossen»). Dabei bleibt aber der alte Bund das Mass: Auch das grössere Bundesvolk ist gerufen «all die Worte zu tun», die Gottes Weisung zum Leben sind. Wir sind «Bundesgenossen eines erneuerten Bundes, eines Bundes freilich, der sich messen lassen muss an diesem am Berg Sinai geschlossenen.»6

1 Mk 14,12–16 legt nahe, dass neben den 12 noch andere aus dem Kreis der Jüngerinnen und Jünger anwesend sind und die 12 mit Jesus in Vers 17 dazukommen.
2 Interessanterweise hat das Neue Testament auch verschiedene Vorstellungen, wodurch der Bund verkörpert wird. Mk und Mt sprechen vom Blut des Bundes, Lk und Paulus vom Kelch bzw. Becher, der der neue Bund ist. Die einen lenken die Aufmerksamkeit also auf das Gefäss, die anderen auf den Inhalt.
3 Vgl.: Dieter Bauer: «Neues» Testament? – Von wegen!, in SKZ 177 (2009), Nr. 12, 207.
4 Judith Plaskow: Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie. Luzern 1992, 107 und 110.
5 Ebd., 107 (Hervorhebung PZ).
6 Gerhard Jankowski: Sein Volk Jissrael. Der Bundesschluss am Berg Sinai, Exodus 24,4–11 in: Texte und Kontexte. Exegetische Zeitschrift 39/1988 3–16.