Wir beraten

Das ist der Tag, den der Herr gemacht hat   

Adrian Schenker zum Osterpsalm 118 am 2. Sonntag der Osterzeit SKZ 15-16/2009

1. Jüdische und christliche Liturgie
Psalm 118 prägt die jüdische und christliche Pessach- und Osterliturgie. Das Neue Testament liest ihn als prophetische Ankündigung und Deutung der Passion und Auferstehung des Gesalbten Jesus in V. 22: «Der Baustein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.» Der Vers, den die römische Liturgie vorzugsweise als Osterantiphon mit wundervoller Choralmelodie singt, ist V. 24: «Das ist der Tag, den der Herr gemacht hat. Lasst uns an ihm jubeln und uns freuen!» Diese beiden Stellen fassen in lapidaren Versen die Geheimnisse der Passion und der Auferstehung zusammen.
Im jüdischen Gebet schliesst Ps 118 den Oster-Hallel ab, der das kleine Ensemble der Psalmen 113–118 umschliesst. Am Seder-Abend des Pessach-Festes beten die Juden Ps 113 und 114, nachdem der Sinn der Mazzen-Brote und der Bitterkräuter erklärt und beide Speisen emporgehoben worden sind. Sie werden doxologisch abgeschlossen mit folgendem Segens- oder Lobspruch: Gesegnet sei, Du unser Gott, König der Welt, der du aus Ägypten uns erlöst und unsre Väter erlöst hast und hast uns gelangen lassen zu dieser Nacht, in ihr Mazza und Bitterkraut zu essen (Übersetzung E. D. Goldschmidt: Die Pessach-Haggada. Berlin 1936). Nach dem Tischgebet mit seinen vier Segenssprüchen und nach dem Trinken des dritten Bechers werden dann Ps 115–118 sowie Ps 136, das sogenannte grosse Hallel, gebetet. Es ist möglich, dass sich die älteste Erwähnung des Brauchs, diese Hallel-Psalmen am Pessach- oder Pascha-Abend zu singen, im Neuen Testament bei den Synoptikern, Mt 26,30 par, findet.

2. Zum Eckstein gemacht
Das Gleichnis von den bösen Winzern, Mt 21,33–45 par, beschliesst Ps 118,22–23. Die Verse deuten das Gleichnis und die Verwerfung Jesu. Bei dieser Ablehnung und Ermordung wird es nicht bleiben, sondern der Verworfene wird rehabilitiert werden. Das Bild vom wichtigsten Stein im ganzen Gefüge entspricht der Auferstehung des zurückgestossenen Messias. Die Apostelgeschichte (4,11) und der 1. Petrusbrief (2,7) führen diese gleiche Stelle des Psalms in verwandtem Zusammenhang ebenfalls an.

3. Eigenart von Psalm 118
Der Psalm ist ein persönliches Dankgebet. Besonders der Hauptteil, V. 5–24, weist als typisches Merkmal des Dankgebetes den Wechsel zwischen dem Rückblick auf die vergangenen furchtbaren Bedrohungen und dem jetzigen Bekenntnis der rettenden Tat Gottes: «Aus meiner Not schrie ich zum Herrn. Da hat mir geantwortet und hat mir Raum geschaffen der Herr! Der Herr ist für mich. Wovor soll mir bangen? Was könnte mir ein Mensch da noch antun?» (V. 5–6).
Danken ist eng mit bekennen verwandt. Zu Dank und Dankbarkeit gehört ja die Anerkennung des geleisteten Dienstes und der empfangenen Wohltat. Solche Anerkennung geschieht vor Zuhörern und Zeugen, die das Geschehene staunend zur Kenntnis nehmen. So entsteht ein Chor von anerkennenden Stimmen: «In den Zelten der Gerechten werden Jubel und Heilsrufe laut: ‹Die Rechte des Herrn hat mit Macht gewirkt! Die Rechte des Herrn ist hoch erhoben! Die Rechte des Herrn hat machtvoll gewirkt!›» (V. 15–16).

4. Bekenntnis
Das Bekenntnis ist nach dem berühmten Wort des Paulus im Römerbrief Teil des Glaubens selbst: «Wenn du mit dem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten aufstehen liess, dann wirst du gerettet werden. Denn mit dem Herzen glaubt man und wird dadurch gerecht, während man mit dem Mund bekennt und dadurch gerettet wird» (Röm 10,9–10). Paulus hat der bekennenden Seite am Glauben, die nie fehlen darf, wenn der Glaube ganz sein soll, wohl deshalb so grosses Gewicht gegeben, weil er das aus den Psalmen gelernt hatte. Ich habe den Eindruck, dass die Funktion der Psalmen als Zeugnis heute in der Psalmenauslegung nicht ganz zu ihrem Recht kommt. Psalmen sind nicht nur betende Zwiesprache zwischen Menschen und Gott in der Einsamkeit. Sie spielen sich öffentlich vor Zeugen ab, damit Resonanz entsteht. Ps 118 ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Seine volltönende Ouvertüre, V. 1–4, ist eine Einladung zum Mitloben und Mitbekennen. Das hebräische Verb hodah wie auch seine griechische und lateinische Wiedergabe exhomologein und confiteri schillern in ihrer Bedeutung zwischen loben und danken einerseits und bekanntmachen, veröffentlichen, proklamieren anderseits. Sie weisen auf die bewusste Absicht, das von Gott Geschenkte weit und breit bekanntzumachen, ja sogar damit für Gott zu werben. Es darf nicht privat und verborgen bleiben, sondern muss angepriesen werden, damit der rettende Gott von vielen hochgepriesen wird.

5. Der Tempel als Tribüne
In dieser Perspektive erklärt sich die Tor- und Einlassliturgie in V. 19–20 und 25–27 am besten, die diesem Psalm ihre besondere Note verleiht. Sie besteht aus einem Dialog am Portal des Tempels. Eine Stimme begehrt von aussen Einlass, eine Stimme von innen antwortet ihr: «Öffnet mir die Pforten der Gerechtigkeit! Ich will in sie eintreten, um den Herrn zu bekennen! – Das hier ist die Pforte zum Herrn. Nur Gerechte dürfen in sie eintreten» (V. 19–20). «Ach Herr, rette doch! Ach Herr, gib Glück doch! – Gesegnet sei, wer im Namen des Herrn eintritt. Wir segnen euch vom Hause des Herrn her. – Der Herr ist Gott! Er ist über uns aufgestrahlt. Bindet Kränze für die Prozession bis an die Hörner des Altars!» (V. 25–27). Die Eintretenden wollen durch das Tempeltor einziehen, um zu bekennen, dass der Herr, Jhwh, Gott ist und sie mit strahlendem Licht verklärt hat. Dieses strahlende Licht ist im Zusammenhang des Dankpsalms ein Bild für überwältigende, göttliche Befreiung aus tiefstem Dunkel der Not.
Warum suchen sie dazu den Tempel auf? Weil hier sowohl Gott, der Empfänger des Bekenntnisses als auch die Menschen, die Zeugen derselben, alle beide zugegen sind. Hier kann das Bekenntnis in die Höhe zu Gott empordringen und horizontal unter den Menschen in die Breite wirken.

6. Das Trisagion der Messe
Den zweiten Einlass haben die Liturgien des Ostens und des Westens seit sehr alter Zeit zusammen mit Jes 6,3 in die Antiphon des Trisagion, des Dreimal Heilig aufgenommen, welches das Danklied der Präfation abschliesst: hoschi’an-na, «rette doch!» und «gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn!» (V. 25 und V. 26). Das «Hosianna» ist ein Huldigungsruf an den rettenden Gott, der aus früher gemachter Rettungserfahrung fliesst, und der Zuruf an die Eintretenden ist ein Segen, den die Priester auf sie herabrufen.
Der Eintretende ist Christus, der Stein, den die Bauleute verworfen hatten, den aber Gott an dem Tag, den er gemacht hat, zum Schlussstein eingesetzt hat. Das ist die Rettungserfahrung der Auferstehung des getöteten Messias, die wir in der Eucharistie glaubend bekennen, sodass sie sich wie in Wellen von Gläubigen zu Gläubigen über die ganze Welt verbreitet.
So erweist sich Psalm 118 als ein ungewöhnlich bedeutungsvolles Lied der Heiligen Schrift, zuerst in seinem biblischen Kontext als Dank- und Bekenntnislied im Psalter, dann als jüdischer Pessach-Psalm, der die Rettung des Volkes aus der ägyptischen Unterdrückung dankend bekennt, und schliesslich als prophetisches Wort über den getöteten und auferstandenen Christus Jesus in den Feiern der christlichen Kirche.