Wir beraten

«Aber Du, wo bist Du?»   

Dieter Bauer zur Lesung am 2. Fastensonntag SKZ 9/2009

Alttestamentliche Lesung: Gen 22,1–2.9a.10–13.15–18
Evangelium: Mk 9,2–10

Einem ganz und gar erschreckenden und verstörenden Gott begegnen wir heute im alttestamentlichen Lesungstext: einem Gott, der Kinderopfer fordert. Dieser Text von «Isaaks Opferung», wie er in der christlichen Tradition meist genannt wird, hat wahrscheinlich nicht nur mich bereits als Kind umgetrieben. Wie soll ein Kind auch anderes reagieren als mit «Furcht und Zittern» (Kierkegaard) bei der Vorstellung, Gott könne dies womöglich auch vom eigenen Vater fordern. Würde er es tun? Würde er sich wie Abraham auf den Weg machen und schliesslich das Messer heben, um seinen Sohn zu schlachten? (Gen 22,10).

Mit Israel lesen

Heute weiss ich, dass diese Abrahamserzählung* keine Kindergeschichte ist und deshalb meiner Meinung nach auch in keine Kinderbibel gehört. Und bis heute habe ich unzählige exegetische «Lösungsversuche» für dieses Dilemma mit dem Gottesbild der Erzählung gelesen. Um es gleich vorwegzunehmen: Eine Lösung gibt es nicht.
Was es aber gibt, ist ein jahrtausendelanges Nachdenken über die Bedeutung dieser Erzählung und ein Abgleich mit den jeweils eigenen Glaubenserfahrungen. Und je nach eigener Erfahrung wird sich auch die Bedeutung der Erzählung verändern.
Viele haben z. B. gemeint, dass die Information Gott stellte Abraham auf die Probe (V. 1) der Geschichte die Schärfe nähme. Nur: Diese Information erhalten zwar die Leserinnen und Leser, aber natürlich nicht Abraham, wie die folgende chassidische Geschichte zeigen kann: «Man fragte Rabbi Schmelke: ‹Warum wird die Opferung Isaaks so verherrlicht? Hatte doch unser Vater Abraham damals schon so eine hohe Stufe der Heiligkeit erreicht – was wunder, dass er sogleich erfüllte, was das Gotteswort von ihm heischte?› Er antwortete: ‹Wenn der Mensch versucht werden soll, werden alle Stufen und alle Heiligkeit von ihm genommen. Alles Erreichten entkleidet, tritt er vors Angesicht des Versuchenden.›»1
Auch der Versuch, wie im Ijobbuch die Verantwortung für diese «Probe» nicht Gott, sondern Satan anzulasten, ist unternommen worden. So sagt der Midrasch: «Auf dem Wege zum Berge Morija begegnet Abraham Satan, der sich als Greis verkleidet hat. ‹Wohin gehst Du?› fragt Satan. ‹Zum Gebet›, sagt Abraham. ‹Du gehst mit einem Messer in der Hand zum Gebet, mit Feuer und Holz? Mit dieser Ausrüstung geht niemand zum Gebet›. ‹Wir haben uns wohl verspätet›, erklärt Abraham, ‹um ein oder zwei Tage. Wir müssen ein Tier schlachten, an die Mahlzeiten denken, sie zubereiten, es ist immer besser, wenn man mit dem Notwendigsten versehen ist.› Da lässt Satan die Maske fallen und ruft: ‹Armer Alter, du glaubst, mich zum Narren halten zu können. Weisst du nicht, dass ich dabei war, als dir der Befehl gegeben wurde?›»2
Wie im Buch Ijob aber wird auch dadurch, dass Satan in die Geschichte eingeführt wird, nichts wirklich geklärt. Die Hauptverantwortung trägt immer noch der Gott (mit Artikel im hebräischen Text). Wer aber ist «der Gott»?
Schon beim ersten Lesen der Erzählung springt der Widerspruch zwischen dem Opferbefehl am Anfang und dem Opferverbot am Ende ins Auge. Schaut man sich den Text genauer an, so sieht man, dass die Gottesbezeichnung wechselt: «der Gott» (V. 1) stellt auf die Probe und befiehlt das Opfer – der «Bote JHWHs» (V.11) untersagt es.
Eine weitere Beobachtung: Abraham wird befohlen, seinen Sohn «aufsteigen zu lassen» (hebr. alah leolah; Martin Buber: «höhe ihn dort zur Darhöhung»). Was Abraham dann aber tut, ist seinen Sohn zu «schlachten» (hebr. schachat, «schächten»). Trotzdem heisst es, dass Abraham auf Gottes Stimme gehört hat (V. 18). Warum? Der Midrasch bemerkt: «Du hast ihn hinaufgebracht und damit mein Wort erfüllt» (Genesis Rabba).
Noch eine Beobachtung: Abraham besteigt den Berg Morija zusammen mit seinem Sohn. So gingen die beiden miteinander, heisst es am Anfang und am Ende des Gesprächs, das die beiden auf dem Weg führen (V. 6.8). Nach dem Opfer des Widders aber ist von Isaak keine Rede mehr: Hierauf kehrte Abraham zu seinen Knechten zurück, heisst es (V. 19). Viele – vor allem jüdische Auslegerinnen und Ausleger – haben daraus geschlossen, dass Isaak also doch geopfert wurde. Ein weiterer Widerspruch!
Man kann die Erzählung also drehen und wenden wie man will – die Widersprüche bleiben. Warum wohl?
Die Erfahrung lehrt, dass das Leben voller Widersprüche ist. Warum sollten unsere Gotteserfahrungen da ausgenommen sein? Und das gibt es einfach, dass Eltern ihre Kinder hergeben müssen. Und dass sie darin einen Sinn zu finden suchen. Kann das Gottes Wille gewesen sein? Ein glaubender Mensch wird versuchen, sein Leben auch in den schwersten Stunden mit Gott zu leben. Eine Garantie, dass das geht, gibt es nicht. Gerade unsere jüdischen Schwestern und Brüder, die den millionenfachen «Holocaust» (so übersetzt die griechische Bibel das «Brandopfer») erlebt haben, können von solchen Erfahrungen erzählen: Irre zu werden an diesem Gott, der offensichtlich – anders als bei Isaak – nicht eingreift. Aber auch das Festhalten im Glauben an diesem Gott, selbst wenn man ihn in keiner Weise verstehen kann. So erzählt Elie Wiesel von einem Synagogendiener (hebr. schammäsch), der den Untergang seines Ghettos miterleben muss und immer wieder in die Synagoge rennt, um Gott anzurufen: «‹Ich bin gekommen, um dich, Herr der Welt, darüber zu informieren, dass wir da sind.› Dann kam es zu den ersten Abschlachtungen durch die Todeskommandos, weitere folgten. Der schammäsch blieb unversehrt. Sobald er konnte, rannte er wieder in die Schule, schlug mit der Faust auf das Lesepult und schrie aus Leibeskräften: ‹Siehe, Herr, wir sind noch da!› Nach der letzten Abschlachtung fand er sich ganz allein in der verlassenen Synagoge. Er, der letzte lebende Jude, kletterte zum letzten Mal auf die Bima, starrte zum Toraschein hinüber und flüsterte mit unendlich zarter Stimme: ‹Siehst Du? Ich bin hier.› Er hielt inne, bevor er mit trauriger, fast tonloser Stimme schloss: ‹Aber Du, wo bist Du?›»3

Mit der Kirche lesen

Wir Christen laufen leicht Gefahr, in unserem Christusglauben diese ganz menschliche Erfahrung, die auch der Jude Jesus aus Nazaret machen musste (Mk 15,34), nicht ganz ernst zu nehmen. Die allgemein als «Verklärungsgeschichte» bekannte Erzählung des heutigen Evangeliums will da etwas «klären» (Mk 9,2–10), nämlich wer Jesus wirklich ist: Dies ist mein geliebter Sohn (9,7; vgl. bereits 1,11). Nicht Petrus gibt die richtige Antwort (Du bist der Christus; 8,29), sondern erst ein römischer Centurio, nachdem er ihn so sterben sah: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn (15,39). Petrus hatte den Gedanken eines leidenden Gottessohnes noch weit von sich gewiesen (8,32).
Die «Klärung» findet – wie im alttestamentlichen Lesungstext – «vom Himmel her» und auf dem Berg statt. Jesus ist nicht «der Prophet» wie Mose oder Elija. Er ist der «geliebte Sohn» – wie Isaak (Gen 22,2). Und wie JHWH das Opfer des Isaak nicht wollte, so darf man dem Vater Jesu nicht in die Schuhe schieben, dass er das Opfer des eigenen Sohnes wollte. Dass dies trotzdem geschah – mit verheerenden Folgen! – ist schlimm genug!

* Wie mein Kollege Winfried Bader in seiner Auslegung in der SKZ 176 (2008), Nr. 11, 174, möchte ich dafür plädieren, den Lesungstext nicht verstümmelt, sondern vollständig 22,1–14 zu lesen, so dass sich ein sinnvoller Text ergibt.

Literaturtipps: Elie Wiesel: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Brüderliche Urgestalten. Freiburg-Basel-Wien 1980; Willem Zuidema (Hrsg.): Isaak wird wieder geopfert. Die «Bindung Isaaks» als Symbol des Leidens Israels. Versuche einer Deutung. Neukirchen-Vluyn 1987.

1 Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 91984, 316.
2 Wiesel, Adam, 88 f.
3 Zitiert bei: Zuidema, Isaak, 79.