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Mild tätig sein   

Peter Zürn zur Lesung am Fest Taufe des Herrn SKZ 51-52/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 42,1–7
Evangelium: Mk 1,7–11

«Aphorismen – Prosamen». So beschreibt der jüdische Schriftsteller Elazar Benyoetz, ein «deutsch schreibender Israeli» (Harald Weinrich), sein Werk1. Seine Aphorismen stehen in der Tradition der Spruchweisheiten des Alten Testamentes. Seine Prosa-Samen lassen neue Bedeutungen aus den Worten spriessen, bringen Verborgenes ans Licht. So auch in diesem Dialog: «Arbeiten Sie hart? – Ich bin nur mild tätig» (118), der uns in den Lesungstext hineinführt.

Mit Israel lesen

Gott findet Gefallen an einer Person, die mild tätig ist. Sie schreit nicht und lärmt nicht und lässt ihre Stimme nicht auf der Strasse erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht sie nicht und den glimmenden Docht löscht sie nicht aus. Der Erwählte Gottes hat mit Rechtsprechung und Gericht zu tun, wie die jüdische Bibelauslegung ausführt: «Er schreit nicht wie sonst ein Richter, damit sich die Leute ihm anschliessen» (Ibn Esra);2 «er schreit die Prozessgegner nicht an, wenn er sie dann nötigt, sein Urteil zu akzeptieren» (Rabbi D. Kimchi); Rabbi Elieser von Beaugency deutet die Bildsprache des Textes so: «Ein geknicktes Rohr – das sind die Armen und Waisen, die nichts haben, worauf sie sich angesichts ihrer mächtigen Widersacher zu stützen vermögen»; «den armen Menschen, dessen Gesichtsglanz wie ein glimmender Docht erblasst, wenn er im Gericht seinem Gegner gegenübersteht, wird er nicht verlöschen (= vernichten)». Rabbi Eliesers Deutung des glimmenden Dochtes verweist auf eine Grundregel der Tora-Rechtsprechung in Lev 19,15: «Macht nicht Verfälschung im Gericht. Emporhebe nicht das Antlitz eines Geringen, verherrliche nicht das Antlitz eines Grossen, nach Wahrheit richte deinen Volksgesellen» (Buber/Rosenzweig). Das Auftreten des Erwählten Gottes ist eine Absage an jede Form von Rechtsbeugung.

Die Unterscheidung und dabei gleichzeitig enge Verbindung zwischen Recht und Wahrheit von Lev 19,15 findet sich auch in Jes 42,3, wo es wörtlich heisst: «Zur Wahrheit führt er [der Gottesknecht] das Recht hinaus» (leider lässt uns die Einheitsübersetzung hier weitgehend im Dunkeln sitzen). Für die jüdische Auslegung bedeutet das: «Ein Recht der Wahrheit ist keine abstrakte und keine objektive Gerechtigkeit, sondern eine Gerechtigkeit, die wohl im Gericht nicht parteiisch ist, aber die Bedürfnisse (der Parteien) berücksichtigt). Es ist eine Gerechtigkeit, die nicht zerbricht, sondern rettet, und wenn sie zerbricht, dann geschieht es um zu retten. Eine solche Gerechtigkeit kann sich leicht mit Liebe und Barherzigkeit verbinden.»3 Das Recht der Wahrheit ist kein lebloses, sondern lebendiges und lebensnahes Recht. Es ist das Gegenteil der sturen Anwendung von starren Regeln, es ist eine schöpferische Tätigkeit. Der Talmud formuliert: «Jedem Richter, der ein Urteil der Wahrheit in seiner (vollen) Wahrheit fällt … rechnet es die Schrift an, als sei er ein Partner des Heiligen, gelobt sei Er, beim Schöpfungswerk» (b. Schabat 10a).

Und was bedeutet es, das der Gottesknecht das Recht der Wahrheit hinausführt? Rabbi Kimchis Antwort nimmt die Bilder von Licht und Dunkelheit aus Jes 42,6–7 auf: «Er wird das Recht ans Licht bringen»,4 es hinausführen aus der Verborgenheit. Das Recht darf nicht allein geschrieben stehen, es muss sich zeigen, muss praktiziert und gelebt werden. Das heisst auch: Der Erwählte Gottes erfindet kein neues Recht, er macht das Recht Gottes, seine Gerechtigkeit und Wahrheit, sichtbar, stellt die Weisungen der Tora in das Licht der Öffentlichkeit.

Der Blick auf den hebräischen Text zeigt, dass die Ausdrücke von Vers 3 (geknicktes Rohr, verglimmender Docht) in Vers 4 mit Blick auf den Erwählten Gottes wiederholt werden: «Er verglimmt nicht, er knickt nicht ein». Die Formulierung der Einheitsübersetzung («er wird nicht müde und bricht nicht zusammen») verdunkelt diese Parallelität und steht in der Gefahr ein Heldenbild zu konstruieren, das der Überforderung und Selbstausbeutung das Wort redet: Vorsicht! Hart arbeitende Gottesknechte am Werk! Stattdessen sieht Rabbi Gradwohl in der Gestalt des Gottesknechtes einen «Antiheld, der von Gott «gestützt» werden muss, der um die Begrenztheit seiner Kräfte weiss und deshalb die Zusage erhält, er werde nicht «verglimmen und nicht einknicken».5 Der Erwählte Gottes unterscheidet sich nicht von den Menschen, für die er eintritt, er teilt ihre Erfahrungen und Grenzen. Seine milde Tätigkeit steht nicht nur im Gegensatz zu Gewalt und Machtmissbrauch, sondern hat auch nichts von herablassender Mildtätigkeit. Seine Form der Solidarität wird im Text durch den Bezug auf das Schöpfungshandeln Gottes im Vers 5 verstärkt, der im hebräischen Text das Zentrum des Textes bildet. Die Leseordnung lässt ausser der einleitenden Formel («so spricht Gott, der Herr»), die auch noch aus dem Zentrum herausgelöst und an den Anfang des Textes gestellt wird, nichts davon übrig. V. 5 lautet: «So spricht Gott, der Herr, der den Himmel erschaff en und ausgespannt hat, der die Erde gemacht hat und alles, was auf ihr wächst, der den Menschen auf der Erde den Atem verleiht und allen, die auf ihr leben, den Geist.» Die Schöpfungstheologie macht deutlich, dass der Geist, den Gott auf seinen Erwählten legt (42,1) auch allen anderen Menschen auf der Erde verliehen ist und in bleibender Gegenwart immer neu verliehen wird. Ja mehr noch: Wenn die Vorstellung Gottes als Schöpfer der Welt im Zentrum des Textes bleibt, wo sie hingehört und mit dem Blick auf alle Menschen auf der Erde schliesst, dann stellt sich die Frage, an wen sich die folgende Rede Gottes denn eigentlich richtet: An den einen Gottesknecht oder an alle Menschen, denen Gottes Geist verliehen ist? Der Text legt nahe, dass es die Menschen sind, denen ja schon zu Beginn der Erwählte Gottes vorgestellt wird: «Seht …». Sie werden von Gott an der Hand genommen und sind dazu bestimmt Bund und Licht zu sein. Ihnen wird etwas bekannt gemacht, noch ehe es zum Vorschein kommt (V. 9). Wörtlich heisst es: «Noch ehe sie aufsprossen, mache ich es euch hören.» Es geht um Menschen, die das Gras der Schöpfung wachsen hören. Die Prosamen von Elazar Benyoetz gehen auch bei Jesaja auf.

Mit der Kirche lesen

Wer sieht und hört, wie sich bei der Taufe Jesu der Himmel öffnet und eine Stimme aus dem Himmel ertönt? Nach Mk 1,10 ist es allein Jesus. Ausser ihm wird nur noch den Leserinnen und Lesern etwas bekannt gemacht, bevor es zum Vorschein kommt. Auch Mk bezieht sich auf die Schöpfungsgeschichte: Der Geist Gottes schwebt wie am ersten Schöpfungstag über dem Wasser. Die Erinnerung an die Schöpfung sagt mit Jesaja: «Seht, das Frühere ist eingetroffen». Das Neue, das sich jetzt ankündigt, ist das Handeln des schöpferischen und lebenschaffenden Gottes. Gottes Geistkraft ist stärker als die Chaosmächte. Nicht die herrschende Gewalt und Ungerechtigkeit wird sich durchsetzen, sondern die milde Tätigkeit der Erwählten Gottes. Elazar Benyoetz sagt es so:
«Anfang ist das letzte Wort» (203).

1 Elazar Benyoetz: Finden macht das Suchen leichter. München-Wien 2004.
2 Zitate nach Roland Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2. Stuttgart 21995, 222 f.
3 Rabbi E. Berkovits zitiert nach: Ebd., 224.
4 Zitiert nach: Ebd., 221.
5 Ebd. 227. Nach Staubli liegt dem Text ein königliches Inthronisationsritual zugrunde, bei dem aber ein König ganz anderer Art, ein «Antikönig» gekrönt wird. Thomas Staubli: Gott, unsere Gerechtigkeit. Begleiter zu den Sonntagslesungen Lesejahr C. Luzern 2000, 55–57.