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Weihnachten am Tag   

Ursula Rapp zur Lesung SKZ 50/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 52,7–12
Evangelium: Joh 1,1–18 oder 1,1–5.9–14

Lesung am Weihnachtstag: Hoffnung auf Frieden und Rettung wird Wirklichkeit, wenn Menschen auf den Jubel hinhören und davon angeleitet Veränderung beginnen.

Mit Israel lesen

Der alttestamentliche Lesungstext am Fest der Menschwerdung Gottes ist ein Aufruf zum Jubeln. Zwei wesentliche Merkmale dieses Aufrufs stechen ins Auge. Das eine sind seine wiederholten Imperative: Horch! (Vers 8), Brecht in Jubel aus, jauchzt (Vers 9), bewegt euch, geht hinaus, berührt nichts Unreines, seid rein (Vers 11), flieht (Vers 12). Ausser dem Hören und dem Berühren des Unreinen ergehen alle Aufrufe zweimal. Das klingt nach etwas Dringlichem. Das zweite Merkmal besteht in der Person, die aufgerufen wird. In Vers 7 ist Zion, d. h. die Stadt Jerusalem, angesprochen, aber dann folgen lauter Aufträge im Plural. Man weiss fast bis zur Hälfte des Textes nicht, wer da eigentlich gemeint ist. Erst in Vers 9 wird klar, dass die Imperative an die Trümmer Jerusalems gerichtet sind. Wenn man nun genauer liest, was diese Trümmer tun sollen, dann ist es – grob gesprochen – Folgendes: hören, jubeln und (hinaus)gehen. Die Trümmer Jerusalems, ansonsten im zweiten Jesajabuch (Kapitel 40–55) tatsächlich Reste der zerstörten Stadt (44,26; 49,19; 58,12; 61,4), werden hier zu Menschen. Das ist auch in Jesaja 51,3 so ähnlich, wo es heisst, dass Gott diese Trümmer trösten wird. Wenn Dinge wie Menschen handeln, Trümmer hören und jubeln sollen, dann ist das bildliche oder metaphorische Sprache.

Ein kurzer Blick in Israels Geschichte gibt uns einige wenige Realien für den sachlichen Teil dieses Bildes: Nachdem Jerusalem 586 v. Chr. von den babylonischen Streitkräften erobert und völlig zerstört worden war, mussten viele Menschen ins Exil. Dabei kam ein grosser Teil nach Babylonien. Da das neubabylonische Reich schon bald von den Persern erobert wurde, setzten neue politische Strategien ein: Die exilierten Menschen durften zurückkehren und Jerusalem wieder aufbauen. Diese Situation der Rückkehr und des Neubeginns besingen und bejubeln die Texte in Jesaja 40–55.

Die Trümmer Jerusalems stehen einerseits für die zerstörte Stadt, aber, da sie leben, sind sie auch ein Bild für das zertrümmerte Volk Israel. Darin steckt nicht nur die Hoffnung, dass die Trümmer wieder leben werden, dass also Jerusalem, die Stadt mit ihren Menschen und Mauern wieder jubeln wird. Vielmehr sagt Jesaja, dass die Trümmer jubeln und die Menschen sich davon anstecken lassen sollen! Sogar die «leblose » Welt wird lebendig und spürt die Veränderung. Und das Leben dieser Welt ist der Jubel.

Die Aufrufe an Zion und die zerstörten Reste beginnen mit «Horch!» in Vers 8. Davor heisst es schon, dass ein Freudenbote kommen und «hören lassen» wird, dass Gott als König herrscht, also kein fremder, neubabylonischer, persischer, und auch kein davidischer König, sondern Gott. Das bedeutet Rettung und Frieden. Genauer wird das in Vers 8 und 9 beschrieben: Gott kehrt zurück nach Zion, Gott tröstet sein Volk und befreit Jerusalem. Die Rückkehr Gottes nach Zion ist Inbegriff einer biblischen Rettungsvorstellung, nämlich, dass Gott unter den Menschen wohnt, im Zelt als heilige Lade oder eben auf dem Berg Zion, jedenfalls mitten unter den Menschen.

Was aber wichtig ist: Man muss schon horchen, um es zu hören! Im Hebräischen steht zu Beginn von Vers 8 nicht einfach: Hört!, sondern da steht ein Nomen: «Stimme» oder «Geräusch». Ganz wörtlich übersetzt müsste es heissen. «Eine Stimme! Deine Wächter erheben eine Stimme!» Das ist nicht zufällig, denn wo man in der hebräischen Bibel etwas «hören lässt», wie es in Vers 7 angekündigt wird, da geht es oft um Kriegsgetöse und Kampfgeschrei (z. B. Josua 6,10; 1 Könige 15,22; 2 Könige 7,6), nicht aber um Frieden und Rettung. Vielleicht muss man ja deshalb auch genau hinhören, weil die Rettung nicht laut und tosend daherkommt.

Das «Hören lassen» kommt bei Jesaja besonders häufi g vor und zu hören gibt es dann zweierlei: 1. Es gibt Rettung für Jerusalem und 2. Gott ist einzig. Das ist neu, und doch nichts Neues, wie auch die Texte wiederholt betonen: «Das Frühere, siehe, es ist eingetroffen, und Neues verkündige ich. Bevor es aufsprosst, lasse ich es euch hören» (Jesaja 42,9). Aber vielleicht liegt das Besondere in der Verbindung der beiden Aussagen: Dass Gott einzig ist, ist nicht nur ein Gebot der Tora, mit dem auch ein Verbot und Konsequenzen der Übertretung verbunden sind. Dass Gott einzig ist, zeigt sich an der Rettung Jerusalems und Zions. Was Gott also auszeichnet, worin er allen Menschen seinen heiligen Namen zeigen wird, das ist die Rettung, an die schon niemand mehr glaubt und die den elendsten und zerstörtesten Menschen, eben (auch) den Trümmern, bestimmt ist.

Auch in Jesaja 48,3–6 denkt Gott darüber nach, dass das, was gerade geschieht, nicht neu ist, aber doch eben erst jetzt geschieht. Es ist etwas Altes, eine alte Rettungstat, die jetzt erst ins Leben gesetzt und Realität wird. Und irgendwie scheint Gott sich selbst darüber zu wundern: «Das Frühere habe ich längst schon verkündet. Aus meinem Mund ist es hervorgegangen, und ich habe es hören lassen; plötzlich tat ich es, und es traf ein» (48,3).

Dieses Neue geschieht also in einem Jetzt, in dem es darauf ankommt auf den Jubel der Wächter zu hören, denn diese sehen etwas. Die Wahrnehmung, das Hinhören und Hinsehen auf das, was geschieht, ist ganz wichtig. Und noch etwas: man soll nicht auf Nachrichten hören, nicht auf Berichte und Sachinformationen, sondern auf den Jubel. Dorothee Sölle weist darauf hin, dass Loben etwas mit Staunen zu tun hat – und eine Sprache der Liebe ist: «Loben ist ein zweckfreies Tun, zu dem mit Bewusstsein nur der Mensch imstande ist.»1 Dazu passt auch der Beginn des Abschnitts: «Wie willkommen» heisst wörtlich «Wie lieblich» oder «Wie angenehm» und kommt ausser hier nur noch zweimal vor in der hebräischen Bibel. Einmal davon im Hohelied der Liebe 1,10, der Bewunderung der Schönheit der Geliebten.

Der zweite Teil der Aufforderungen in Vers 11–12 ruft dann zur Veränderung der Realität auf: Bewegt euch, geht hinaus, geht! Das sind die Wörter des Exodus, des Auszugs aus der ersten Sklaverei und Gefangenschaft. Eine neue Befreiungstat dieser grundlegenden Erfahrung biblischen Glaubens wird hier angekündigt. Entgegen dem ersten Exodus (Exodus 12,11) müssen die Israelitinnen und Israeliten jetzt nicht in Eile fliehen, weil Gott sie führt und auch hinter ihnen herzieht – statt des ägyptischen Heeres (Vers 12).

Der Abschnitt aus dem Jesajabuch ist in der jüdischen Leseordnung jene prophetische Lesung (Haftara), die Deuteronomium 16,18– 29,18 zugeordnet wird, nicht etwa der Erzählung von der Flucht aus Ägypten. Der lange Abschnitt im Buch Deuteronomium zählt Gesetze auf für das Leben im gelobten Land und beschreibt, wohin deren Missachtung führen würde (Kapitel 28). Dieses Leben ist geprägt von Formulierungen wie «Du sollst das Böse aus deiner Mitte fortschaffen» (z. B. in 17,7). Es geht also um gutes Leben, um ein Leben in Frieden und ohne Unterdrückung, im Schutz Gottes von allen Seiten. Die jüdische Leseordnung macht damit noch einmal deutlich, dass auf die Rückkehr aus dem Exil ein Neubeginn im alten Land folgt, für den die Weisungen der Tora ebenso wieder neu gelten.

Mit der Kirche lesen

Wenn die christliche Leseordnung dagegen das Evangelium mit dem Johannesprolog zuordnet, ist schon ganz klar, dass sie diese Hoffnungsworte auf Jesus, den Christus, bezieht. Aber immerhin heisst es auch, dass man schon genau hinhören und -sehen muss, um das auch wahrzunehmen, dass Rettung passiert und Worte Fleisch und Wirklichkeit werden. Mehr muss man am Weihnachtstag zu diesem Thema kaum sagen.

1 Dorothee Sölle: Lieben und arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung. München 2001, 79.