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«Wie der Vater so der Sohn»?   

André Flury-Schölch zur Lesung am 26. Sonntag im Jahreskreis SKZ 38/2008

Alttestamentliche Lesung: Ez 18,25–28
Evangelium: Mt 21,28–32

«Wie der Vater so der Sohn» oder «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm» – Wer hat nicht schon solche Sprüche gehört oder selbst gebraucht? Menschen werden im Positiven wie im Negativen häufig aufgrund ihrer Eltern, ihrer «Abstammung», ihrer Herkunft beurteilt: manchmal gelobt und bewundert, häufig jedoch «schubladisiert», verachtet oder vorverurteilt. Derartige Vorurteile sind im privaten wie im öffentlichen Bereich verbreitet. Sie gehen einher mit Pauschalisierungen wie: Die Migranten, die (gewalttätigen!?) Eingebürgerten usw., usf. Diese Phänomene sind uralt und in rechtlicher Hinsicht zumeist mit der Vorstellung der Sippenhaftung verbunden: Die einzelne Person muss ihr Verhalten nicht alleine verantworten, sondern die gesamte «Sippe» (Grossfamilie; Clan; Stamm; Volk; Religionsgemeinschaft usw.) wird für das Verhalten eines ihrer Mitglieder zur Rechenschaft gezogen bzw. belohnt. Infolgedessen werden beim Fehlverhalten einer einzelnen Person Kollektivstrafen gegen dessen «Sippe» verhängt.

Mit Israel lesen

Auch im Alten Orient war die Vorstellung der Sippenhaftung und der Kollektivschuld weit verbreitet. Eindrücklich beschrieben wird dieses Prinzip zum Beispiel in einer hethitischen Vorschrift für das Tempelpersonal: «Wenn ein Diener seinen Herrn irgend erzürnt, so wird man ihn entweder hinrichten oder seine Nase, seine Augen, seine Ohren verderben oder [man wird] ihn, seine Frau, seine Kinder, seinen Bruder, seine Schwester, seine angeheirateten Verwandten, seine Sippe . . . [ergreifen] . . . Wenn er stirbt, stirbt er nicht allein, sondern seine Sippe geh[t] mit ihm. Wenn [jemand] aber das Gemüt eines Gottes erzürnt, s[ucht] der Gott das etwa an jenem [all]ein heim? [Su]cht er es nicht auch an seiner Frau, [seinen Kindern], seiner [Nachko]mmenschaft, seiner Sippe, seinen Sklaven und Mägden, seinem Vieh, seinen Schafen und an seinen Feldfrüchten he[im], um ihn auf diese Weise gänzlich zu richten?»*

Ein grosser Teil der Forschung sieht in Ez 18 einen Vorreiter für den Übergang von einer solchen kollektiven Haftung zu einer individuellen Haftung. Ezechiel weist gemäss dieser Auslegung die Sippenhaftung und Kollektivschuld zurück und betont, dass jeder einzelne Mensch nur für seine eigenen Taten verantwortlich gemacht werden kann. Falls diese Auslegung zutrifft, kann mit Ez 18 eine Art Geburtsstunde des Individuums, das sich von der Bevormundung durch das Kollektiv befreit, gefeiert werden. Eine andere Auslegungsposition bezieht stattdessen die Redensart von den «unreifen Früchten» in Ez 18,2 auf die konkrete Exilsgeneration: Die vorherige Generation (als Kollektiv) hat Unrecht begangen – die nächste Generation (als Kollektiv) wird nach Babylon verschleppt und muss für dieses Unrecht büssen. Ez 18 wendet sich in dieser Sicht gegen eine «Vererbung» von Schuld / Segen von der einen auf die nächste Generation. Die beiden Auslegungen müssen sich m. E. nicht völlig widersprechen. Auf jeden Fall widersetzt sich Ezechiel vehement der altherkömmlichen Vorstellung, dass Gott die Vergehen einer Generation bis in die vierte Generation verfolgt bzw. bei denen, die seine Gebote halten, an Tausenden Gnade erweist (Ex 20,5; Dtn 5,9). Für Ezechiel ist jede Generation bzw. jedes Individuum eigenverantwortlich für ihr/sein Verhalten und darf nicht aufgrund anderer Generationen/Individuen belangt oder belohnt werden.

Wie ungewöhnlich diese Vorstellung für die Zeit Ezechiels ist, zeigt sich am Einwand der nicht näher bestimmten Israeliten: «Das Verhalten des Herrn ist nicht richtig» (Ez 18,25) monieren sie (vgl. auch noch die Frage im NT bei Joh 9,1–3). Doch Ez 18 hält dem in mehrfachen Durchgängen entgegen, dass Gott eine Person oder Generation nicht aufgrund ihrer Vergangenheit, sondern aufgrund der Gegenwart und der Zukunft beurteilt: Einem Gerechten, der sich von der Gerechtigkeit abkehrt und Unrecht begeht (vgl. 18,26) nützen die zuvor gelebten gerechten Taten nichts. Sein Treuebruch gegenüber Gott sowie seine Sünden führen gemäss dem Tun-Ergehen-Zusammenhang zum Tod. Ein Ungerechter/Schuldiger jedoch, der zu «Recht und Gerechtigkeit» umkehrt (vgl. 18,27–28), wird am Leben bleiben, das heisst, seine Sünden werden ihm von Gott nicht angerechnet, sondern vergeben. Einige Verse zuvor wird der Grund für Gottes Vergebungsbereitschaft genannt: Gott hat keinen Gefallen am Tod eines Ungerechten, sondern vielmehr an seiner Umkehr zum Leben (in Ez 18,23 als rhetorische Frage, in 18,32; 33,11 als Aussage formuliert). Auch wenn dieser Satz nur zwei Mal bei Ezechiel vorkommt, so möchte man ihn doch gerne als einen Kernsatz betrachten, den man sich auch bei den vielen Straf- und Drohbotschaften des Ezechielbuches vor Augen halten kann: Zutiefst und eigentlich will JHWH das Leben für die Menschen/Israel und ist bereit, alles zu vergeben. Bedingung für das Leben ist jedoch das Halten von Gottes Satzungen und Rechtssätzen (vgl. 18,10–20), weil entsprechend dem Tun-Ergehen-Zusammenhang nur Gerechtigkeit zum Leben führt, Ungerechtigkeit hingegen zum Tod.

Da Ezechiel seine Generation als schuldig erlebt – insbesondere die Führungsschichten: die Könige Judas (vgl. 19,1–14; 34,1–31 u. ö.), die Ältesten Israels (8,7-13), die Obersten des Volkes (11,1–13), die Prophetinnen und Propheten (13,1–23; 22,25.28) sowie die Priester (22,26) –, ist Umkehr die zentrale Forderung Gottes an Israel (vgl. 18,28.30.32; 33,11). Diese ist für Ezechiel immer und offenbar bedingungslos möglich. Bei der Umkehr traut Ezechiel zudem den Menschen äusserst viel zu: Der Mensch wird gemäss Ez 18,31 von Gott aufgefordert: «Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist!», das heisst erneuert euch selbst von innen heraus um nach Recht und Gerechtigkeit zu handeln. Dem gegenüber wird in Ez 11,19; 36,26 ausgesagt, dass JHWH dem Menschen/ Israel ein neues Herz und einen neuen Geist geben wird. Dieser markante Unterschied kann entweder als ein Indiz dafür angesehen werden, dass im Ezechielbuch mehrere Leute am Schreiben und Weiterschreiben beteiligt waren, oder als ein Beispiel dafür gelten, dass Ezechiel Gottes Wirken und des Menschen Wirken als ineinander verschränkt versteht. Wie auch immer: Für Ezechiel hängt das Geschick einer Person / einer Generation nicht massgeblich von den Vorfahren ab. Vielmehr hat jede Person/Generation jederzeit die Möglichkeit einer Umkehr zum Leben.

Mit der Kirche lesen

Mt 21,28–32 handelt zwar auch von Söhnen, doch mit einem anderen Thema: Nicht das Lippenbekenntnis ist entscheidend, sondern das konkrete Handeln; nicht die formale Zugehörigkeit zur «richtigen» Religion ist für Jesus/ Mt in der Auseinandersetzung mit «Hohepriestern und Ältesten» (21,23) entscheidend, sondern «den Weg der Gerechtigkeit» zu gehen (21,32); ins Himmelreich kommen gemäss Mt nicht die «Herr, Herr-Sager», sondern jene, die den Willen des Vaters tun (vgl. 7,15–23); nicht jene, die Wunder im Namen des Herrn vollbringen, sondern jene, die konkrete Nächstenliebe leben (vgl. 25,31–46).

* Zit. nach Moshe Greenberg: Ezechiel 1–20 (HThK AT). Freiburg i. Br. 2001, 377.