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Ehrlich sein   

André Flury-Schölch zur Lesung am 22. Sonntag im Jahreskreis SKZ 33-34/2008

Alttestamentliche Lesung: Jer 20,7–9
Evangelium: Mt 16,21–27

«Lieber Gott, wenn es dich gibt: rette meine Seele, wenn ich eine habe.» In diesen Worten Friedrichs II. (1712–86) kann eine humorvoll-spöttische Ehrlichkeit in Bezug auf seine Selbst- und Gottesbeziehung gesehen werden. Es gibt auch eine ernsthafte Variante gläubig-zweifelnder Ehrlichkeit hinsichtlich der eigenen Existenz und der Frage nach Gott. Sie findet in der Bibel einen besonderen Ausdruck in den sogenannten «Konfessionen» des Jeremia.1 Diese sind ein eindrückliches Zeugnis dafür, dass in der Gottesbeziehung nicht nur Bitte, Dank und Lobpreis ihren Platz haben, sondern ebenso auch Gottes- und Selbstzweifel, Klage zu Gott, ja selbst Anklage Gottes.

Mit Israel lesen

Die von der Leseordnung vorgesehenen Verse bilden den Beginn der fünften und letzten «Konfession» des Jeremia, die insgesamt zumindest 20,7–13, nach manchen auch 20,14–18 umfasst.2 Die vorherigen Konfessionen legen vor allem Jeremias Ringen mit den äusseren Widerständen off en: Die erste Konfession (11,18–12,6) ist geprägt von der Ablehnung, die Jeremia in seinem Herkunftsort Anatot (ca. 5 km nordöstlich von Jerusalem) erfährt: Nächste Angehörige handeln treulos an Jeremia (vgl. 12,6), und gegenüber den Männern, die ihm nach dem Leben trachten, empfindet sich Jeremia «wie ein zutrauliches Lamm, das zum Schlachten geführt wird» (11,19). In der zweiten Konfession (15,10–21) erscheint der Konflikt ausgeweitet: Jeremia bezeichnet sich als «einen Mann des Zanks mit dem ganzen Land» und wähnt sich von allen «verflucht» (15,10). Gemäss der dritten Konfession (17,12–18) sieht sich Jeremia dem Vorwurf ausgesetzt, dass Gottes Wort – d. h. das von Jeremia angedrohte Unheil / Strafgericht Gottes – ausbleibt (vgl. 17,15). In der vierten Konfession (18,18–21) wünscht Jeremia seinen Widersachern aufs fürchterlichste Gottes Strafe (vgl. 18,21–23).
In der fünften Konfession (20,7–18) kommen schliesslich die inneren Konflikte des Jeremia mit aller Deutlichkeit zum Vorschein. Die Aussagen dieses Gebetes sind sehr widersprüchlich, was oft als Indiz für mehrfache Bearbeitung/Redaktion des Textes angesehen wird. Man kann in den Widersprüchen jedoch auch die innere Zerrissenheit des Jeremia abgebildet sehen: Jeremia erlebt nicht einfach nur «Wechselbäder der Gefühle», sondern vielmehr «Wechselbäder» in seiner Gottesbeziehung, seiner Berufung und seiner Identität.

Anlass der fünften Konfession ist im jetzigen Textzusammenhang die leidvolle Demütigung, die Jeremia aufgrund seiner Unheilsankündigung gegen Jerusalem (vgl. Jer 19)3 erfahren hat: Der Priester Paschhur, der «Aufseher-Vorsteher» des Tempels, hat Jeremia geschlagen (wohl: auspeitschen lassen) und in den Block gespannt (20,1–2), also seiner Freiheit beraubt und in demütigender Weise öffentlich zur Schau gestellt. Auf das erfahrene Leid (20,1–2) reagiert Jeremia zunächst unerschrocken mit einer Drohung gegen Paschhur: Gottes Gerichtshandeln werde den Übeltäter (VV3f.6) und ganz Juda (V5) treffen. Doch gleich darauf greift Jeremia in der fünften Konfession jäh Gott an: «Du hast mich betört» – d. h. wahrscheinlich getäuscht – «gepackt und überwältigt» (V7a). Gewaltige Vorwürfe gegen Gott! Jeremia fühlt sich von Gott betrogen, missbraucht. Im Hintergrund steht wohl eine von Jeremia zutiefst empfundene Diskrepanz zwischen der sich von Gott erhoff ten bzw. von Gott zugesagten Stärke und Hilfe (z. B. 1,18 f.; 5,14; 15,20 f.) und der demütigenden Lage, in der sich Jeremia nun effektiv befindet. Der Vorwurf wird begründet mit der Klage: «Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag . . .» (V7b). Grund für den Spott ist das Wort JHWHs, das Jeremia zu verkünden hat. Jeremias Situation ist aussichtslos: Denn wenn er versucht, um Leid und Spott zu verhindern, Gottes Wort nicht weiterzusagen, so hält er es in seinem Inneren nicht aus («als brenne in meinem Herzen ein Feuer» V9). Jeremia kann nicht anders, als zu reden – und dies macht er Gott zum Vorwurf.

Die Vorwürfe und Klagen werden wiederum abrupt abgelöst durch ein Vertrauensbekenntnis: Gott sei für Jeremia «wie ein gewaltiger Held» und lasse Jeremias «Verfolger straucheln» (VV11–12), was diesem Grund zum Gotteslob ist (V13). Doch die Aufforderung zum Lobpreis wird jäh abgebrochen durch eine fürchterliche Selbstverfluchung: «Verflucht der Tag, an dem ich geboren wurde . . . Warum nur bin ich aus dem Mutterleib hervorgegangen, zu sehen Mühsal und Kummer . . .» (VV14–18). Jeremia, der sich von allen als verflucht erfährt (15,10), verflucht sich nun selbst. Tiefste Depression hat in erfasst.

Dies alles wird im biblischen Text offen und ehrlich ausgesprochen – und, ohne es zu werten, stehen gelassen. Denn Jeremia erfährt in Jer 21 ff . keine Antwort von Gott. Indem Gottes Wort weiterhin an Jeremia ergeht, wird zwar implizit die Weiterführung seiner Berufung/Sendung ausgesagt. Doch die Vorwürfe gegen Gott (V7), die Ausweglosigkeit der Situation (V9) und Jeremias Infragestellung bzw. Verneinung seiner (Propheten-)Existenz (V18) bleiben ebenso off en wie seine innere Zerrissenheit (VV9.11–13) und die möglichen Folgen der Selbstverwünschungen (VV14–18).

Die Ehrlichkeit, mit welcher auch die Abgründe der Beziehung zu Gott und zu sich selbst im Jeremiabuch beschrieben bzw. gegenüber Gott im Gebet zum Ausdruck gebracht werden, macht es zu einem ganz besonderen Prophetenbuch: Gottes- und Selbstzweifel können zum Glauben gehören und geradezu Kennzeichen eines von Gott Gesandten sein.

Mit der Kirche lesen

Die Evangelien beschreiben zuhauf, wie Jesus von Nazareth eine Ehrlichkeit, die Gott, sich selbst und dem Nächsten alles zumutet, vorgelebt hat: Er mutet seinen Jüngerinnen und Jüngern zu, seinem kommenden Leiden off en in die Augen zu sehen, es auszuhalten ohne Beschönigung oder Verdrängung. Er mutet Petrus das «Weg mit dir, Satan!» zu. Er mutet Gott seine Angst und die Bitte zu, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, sowie den Schrei «Warum hast du mich verlassen? » Er mutet sich zu, den Willen Gottes zu erfüllen, ihn höher zu stellen, als die persönliche Unversehrtheit. Und er mutet allen Jüngerinnen und Jüngern zu, ihm in derselben Radikalität nachzufolgen.

1 Vgl. SKZ 176 (2008), Nr. 24, 407. «Jeremia» kann dabei sowohl als Individuum (als historischer Einzelprophet) verstanden werden, wie auch als Kollektivfigur, die für die jüdische Gemeinde und deren Geschick steht; «Jeremia» kann sowohl die Seite Gottes verkörpern, der an seinem Volk und dessen Ablehnung leidet, wie zugleich auch das Volk, das Gott Fragen stellt und Gott Vorhaltungen macht; zudem können sich die Lesenden/Hörenden mit dem «Ich» in den Konfessionen identifizieren.
2 Am 12. Sonntag im Jahreskreis A war mit Jer 20,10–13 bereits ein Ausschnitt dieser fünften Konfession vorgegeben (siehe SKZ 176 [2008], Nr. 24, 407), nun wird mit 20,7–9 ein erneuter, gar vorausliegender Ausschnitt ausgewählt.
3 Zum geschichtlichen Hintergrund siehe SKZ 175 (2007), Nr. 31–32, 513.