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Verstümmeln und vergessen   

Peter Zürn zur Lesung am 20. Sonntag im Jahreskreis SKZ 31-32/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 56,1-6-7
Evangelium: Mt 15,21-28

Durch die Leseordnung werden alttestamentliche Texte verstümmelt, indem Verse weggelassen werden. Das hat leider weitreichende Folgen.

Mit Israel lesen

Jes 56,1–7 fordert Israel auf, das Recht zu wahren und Gerechtigkeit zu praktizieren, um sich als Volk des Bundes mit Gott zu erweisen. Ein Schlüssel dazu ist es, den Sabbat zu halten. Der Zugang zum Bund wird nicht durch körperliche oder ethnische Kriterien eingeschränkt. Dafür stehen exemplarisch die Verschnittenen (Kastraten, Eunuchen) und die Fremden, denen der Bund offen steht. Das entscheidende Kritierium für die Zugehörigkeit, für die «Einbürgerung» ins Volk Gottes, ist ethischer Art. Der Schlüssel ist auch hier das Halten des Sabbats.

Durch die Leseordnung werden vier Verse herausgeschnitten. Ein erstes Opfer davon sind die Eunuchen, denen durch diesen Aus-schnitt ein weiteres Mal Gewalt angetan wird – im klaren Widerspruch zum Text, der als Wort Gottes überliefert: «Den Verschnittenen… errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal» (56,4–5 EÜ). Thomas Staubli stellt die «Eunuchen für das Himmelreich» denn auch ins Zentrum seines gleichnamigen Artikels zum Lesungstext.1 Daniel Marguerat sieht in dem Eunuchen aus Äthiopien (Apg 8,26–40), die Verheissung von Jes 56 geradezu idealtypisch verkörpert.2 Die Apostelgeschichte legt Jesaja in erzählender Form aus.

Im Zentrum von Jes 56 steht Gottes Zusage, Menschen einen Namen zu geben, der niemals ausgetilgt wird (56,5). Die Erinnerung an die Namen zu erhalten, ihrer zu gedenken, ist Aufgabe der Nachgeborenen, in erster Linie der eigenen Kinder. Nach Jes 56 tritt Gott mit seinem Gedächtnis für die Menschen ein, die keine Kinder haben. Dafür stehen exemplarisch die Verschnittenen bzw. Eunuchen, die als Opfer von Gewalt ohne Nachkommen bleiben. Ihnen droht das Vergessen. Was Jes 56 als Schicksal einzelner Menschen benennt, ist in der Schoah beinahe das Schicksal des ganzen Volkes Israel geworden. Deswegen hat die Holocaust- Gedenkstätte Jadwaschem in Jerusalem ihren Namen aus diesem Text entnommen. In Jes 56,5 heisst es wörtlich: «Ihnen gebe ich in meinem Haus, in meinen Mauern ein Handzeichen, ein Namensmal» – jad wa-schem.

Durch die Textverstümmelung der Leseordnung droht ein anderer Aspekt des Bibeltextes in den Hintergrund zu geraten oder ganz vergessen zu gehen: das Halten des Sabbats als Schlüssel zu Recht und Gerechtigkeit. Davon ist im Text dreimal die Rede (56,2.4.6). Was dreimal vorkommt, ist nach rabbinischer Auffassung von besonderer Bedeutung. Die Leseordnung unterschlägt zwei dieser Stellen. Was hat aber das Halten des Sabbats mit Recht und Gerechtigkeit zu tun? Dem Wortsinne nach bedeutet schabbat «aufhören», «unterbrechen». Der Sabbat unterbricht die not wen digen und gewöhnlichen Tätigkeiten, die mühe volle Arbeit (hebräisch melachah, davon: malochen) und schafft einen Zeitraum des unverzweckten Seins. Jesaja spricht von der Sabbatwonne (58,13–14). Der Sabbat unterbricht aber auch die herrschenden Hierarchien. Am Sabbat sind alle gleich: «Du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat» (Ex 20,10; Dtn 5,14). Ex 20 begründet das Sabbatgebot schöpfungstheologisch. Wie Gott am siebten Tage der Schöpfung sollen auch die Menschen am siebten Tage ruhen. Das Recht mit der Arbeit aufzuhören, das Recht zu ruhen und zu feiern, das Recht darauf, mehr zu sein als Sklave oder Sklavin, nämlich Mensch und Ebenbild Gottes, ist ein Menschenrecht und gilt für alle, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft und ihrer sozialen Stellung. Am Sabbat kommt eine wesentliche Gleichberechtigung zum Ausdruck, wird die göttliche Gerechtigkeit offenbar (56,1), die alle von Menschen gemachten Hierarchien und Vorrechte zumindest eine Zeitlang unterbricht und sie damit grundsätzlich relativiert. Insofern ist der Sabbat der Schlüssel zu dem Recht und der Gerechtigkeit, die unter Menschen, die mit Gott verbunden sind, gelten sollen. Indem das Vieh in die Sabbatruhe eingeschlossen wird, erinnert das Sabbatgebot ausserdem an die Utopie einer gewaltfreien Beziehung zwischen Mensch und Tier (vgl. Gen 1, 29 und 9,2 f.), die im wörtlichsten Sinne ein Stachel im Fleisch bleibt.

Fehlt die (Ehe-)Frau in der Aufzählung derer, die am Sabbat ruhen sollen? Der Dekalog richtet sich an erwachsene Personen, die im Sozialverband Verantwortung tragen. Sind damit ausschliesslich Männer mit einem gewissen Besitz gemeint wie es das 10. Gebot nahelegt (vgl. Ex 20,17; Dtn 5,21)? Geht die patriarchal geprägte Bibel selbstverständlich und deswegen stillschweigend davon aus, dass die Frau des Hauses auch am Sabbat arbeitet? Dem widersprechen die jüdische Sabbatpraxis und die sehr geschlechterbewusste Aufzählung von Sohn und Tochter, von Sklave und Sklavin im Sabbatgebot. Die rabbinische Auslegung versteht die Aufzählung so, dass sie nur die erfasst, für die der Haus-Herr Verantwortung trägt. Dass die Frau unter ihnen fehlt, beweist, dass die Tora sie für sich selbst verantwortlich hält und sie ausdrücklich nicht unter die Kontrolle ihres Mannes stellt. In dieser grund legenden Eigenverantwortlichkeit offenbart sich göttliche Gerechtigkeit.

Die jüdische Tradition hält das biblische Bewusstsein dafür wach, wie sehr der Sabbat der Schlüssel zu Recht und Gerechtigkeit ist. «Gott sagte zu Israel: «Wenn du einen Schabbat beachtest, will ich es dir anrechnen, als hättest du alle Mitzwot [Gebote, Weisungen PZ] der Tora beachtet.»3 R. Schimon ben Jochai lehrte: «Würden die Israeliten zwei Sabbate nach Vorschrift halten, so würden sie sofort erlöst werden» (Schabbat 118b).4

Mit der Kirche lesen

Durch die Verkürzung des Jesajatextes wird das Hauptgewicht auf die «Fremden, die sich dem Herrn anschliessen» gelegt (Jes 56,6). Davon handelt exemplarisch die Erzählung von der Begegnung zwischen Jesus und einer namenlosen kanaanäischen Frau (Mt 15,21–28). Jesaja thematisiert Gottes Widerstand gegen menschliche Ausgrenzungen. Weder körperliche Merkmale noch ethnische Herkunft schliessen vom Bund Gottes aus. Matthäus ergänzt das um den Ausschlussgrund Geschlecht und aktualisiert so die grundlegende Gleichwertigkeit von Männern und Frauen im Sabbatgebot. So «erfüllt sich» – um ein zentrales Motiv des Matthäusevangeliums zu gebrauchen – die Schrift. Die kanaanäische Frau agiert in höchstem Masse eigenverantwortlich. Sie bleibt nicht bei der Kränkung stehen, die in der Unterscheidung von «Kindern» und «Hunden» zum Ausdruck kommt. Sie argumentiert auf Augenhöhe mit Jesus und wird so von ihm anerkannt (15,28). Indem sie für ihre Tochter eintritt, übernimmt sie zusätzlich die Verantwortung als Haus-Herrin im Sinn des Dekalogs. Jesus stärkt sie in der Übernahme von Verantwortung: «Was du willst, soll geschehen.» Wenn Gottes Gerechtigkeit offenbar wird (Jes 56,1), wird die jetzt noch namenlose Frau bei ihrem Namen gerufen werden.

1 Thomas Staubli: Weisheit wurzelt im Volk. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Lesejahr A. Luzern 2001, 176–179.
2 Daniel Marguerat: Eine Randfigur aus der Apostelgeschichte: Der Eunuch aus Äthiopien (Apg 8,26–40) in: Max Küchler / Peter Reinl: Randfiguren in der Mitte. Hermann-Josef Venetz zu Ehren. Luzern-Freiburg/CH 2003, 89–101.
3 Midrasch zitiert nach W. Gunther Plaut: Die Tora in jüdischer Auslegung, Band II. Schemot. Luzern-Gütersloh 2000, 223.
4 Zitiert nach: Erich Spier: Der Sabbat. Berlin 2005, 43.