Wir beraten

Gott lernen unterm Pflaumenbaum   

Peter Zürn zur Lesung am 10. Sonntag im Jahreskreis SKZ 22/2008

Alttestamentliche Lesung: Hos 6,3–6
Evangelium: Mt 9,9–13

Bertolt Brecht erinnert sich in einem Gedicht:

«An jenem Tag im blauen Mond September
still unter einem jungen Pflaumenbaum
da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
in meinem Arm wie einen holden Traum.

Und über uns im schönen Sommerhimmel
war eine Wolke, die ich lange sah
sie war sehr weiss und ungeheuer oben
und als ich aufsah, war sie nimmer da.»

Die Erinnerung an die Geliebte schwindet mit der Zeit, nur die an den Kuss bleibt.

«Und auch den Kuss, ich hätt ihn längst vergessen
wenn nicht die Wolke da gewesen wär
die weiss ich noch und werd ich immer wissen
sie war sehr weiss und kam von oben her.

Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch Immer
und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
doch jene Wolke blühte nur Minuten
und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.»1

Wie bewahren wir die Erinnerung an die erste Liebe? Das ist auch die Frage des Propheten Hosea.

Mit Israel lesen

Das Buch Hosea besteht weitgehend aus Drohworten, vor allem an die Verantwortlichen in Kult und Politik. Dazwischen wird immer wieder an die Frühzeit der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk erinnert, an die Zeit der Wüstenwanderung. Für Hosea ist sie die Zeit der glücklichen ersten Liebe – ein anderes Bild als in den Erzählungen davon (Ex-Dtn). Er verheisst denn auch die zukünftige Beziehung zwischen Gott und Israel als geglückten Neuanfang in der Wüste. Das gegenwärtige Verhalten des Volkes und seiner Repräsentanten wird im Bild der Liebesbeziehung massiv kritisiert: als Ehebruch und Hurerei. Darin zeigt sich das Vergessen Gottes. Der Gegenbegriff dazu ist die Erkenntnis Gottes. Im Lesungstext ist dreimal die Rede von ihr, sie bildet gleichsam den Rahmen des Textes (5,3 und 6). Wir assoziieren mit Gotteserkenntnis schnell ein einmaliges und intellektuelles Geschehen. Dem prozesshaften biblischen Denken entspricht der Ausdruck «lernen» mehr: «Lasst uns Gott lernen» – so könnte der Beginn des Lesungstextes übersetzt werden. Das Gott-Lernen ist kein einmaliges Geschehen, es ist ein andauernder Prozess, lebenslanges Lernen. Gott lernen ist auch kein rein intellektuelles, sondern ein praktisches und soziales Geschehen, Reflexion inklusive. Im Text werden Gotteserkenntnis und Liebe miteinander verbunden. Gott lernen und lieben lernen ist der gleiche Prozess. Vermutlich hat Hosea beim Ausdruck «Liebe» weniger romantische Vorstellungen als wir. Unsere bringt Brecht mit seinem Liebespaar unter dem Pflaumenbaum ins Bild. Die prophetische Rede von der Liebe schliesst die Paare unter den Bäumen (hoffentlich) nicht aus, meint aber viel mehr: die sozialen Beziehungen im Volk Israel. Hier umarmen und vereinigen sich Gottesliebe und Menschenliebe, wie es der Baal Schem Tow formuliert: «Wenn du wahrhaft Gott liebst, dann erkennt man das an deiner Liebe zu den Menschen.»2

Der Lesungstext spielt mit Bildern für diese Liebe. Die Liebe Efraims und Judas (der Menschen im Nord- und Südreich, die zur Zeit Hoseas getrennt und verfeindet waren), ist wie eine (einzelne) Wolke und wie Tau am Morgen. Sie sind verheissungsvoll und schön, aber sie reichen nicht aus, um das Land zu bewässern. Einer solchen Liebe fehlen die Dauerhaftigkeit und die Verbindlichkeit, die lebensfördernd sind. Menschen brauchen mehr und sie erfahren auch mehr: In Israel und Juda kennt man den Regen im Frühjahr, der eine gute Ernte ermöglicht. So wie Menschen in ihrer Beziehung zur Natur, die sich ja letztlich der Schöpferkraft Gottes verdankt, wiederkehrende und somit verlässliche Bedingungen brauchen, so brauchen auch die Beziehungen zwischen Menschen fördernde und schützende Rahmenbedingungen, um dauerhaft und verbindlich werden zu können. Ein Recht, das vor dem Missbrauch von Beziehungen schützt und den Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten gerecht wird, leuchtet auf wie das Licht, (hebr. or), das schon die Schöpfung erhellt (Gen 1). In den meisten Übersetzungen von Hos 6,5 spricht Gott in Ich-Form: «Mein Recht strahlt aus wie das Licht». Im hebräischen Text steht aber mischpataecha, «dein Recht bzw. deine Rechte». Es sind menschliche Regelungen, die liebevolle und gerechte Beziehungen fördern und schützen, die wie das Schöpfungslicht leuchten. Wenn Gottes- und Menschenliebe ineinanderfallen, ist der Unterschied kaum noch von Bedeutung.

Das Volk vergleicht Gottes Liebesbeziehung mit dem Regen im Frühling (6,3). Der wiederkehrende Regen und die treue Beziehung von Anfang an sind die Lebensgrundlagen bis heute. Aber die Erfahrung zeigt: Es gibt keine Garantie für den Frühjahrsregen. Er ist nicht machbar, sondern unverfügbares Geschenk – wie Liebesbeziehungen. Brecht hat etwas davon verstanden, als er die Wolke sah, die nur Minuten blühte und dann im Wind schwand. Die Erinnerung an die Unverfügbarkeit «ungeheuer oben», bewahrt die Erinnerung an den Kuss unter dem Pflaumenbaum. Sie bewahrt die Erinnerung an die junge Liebe und an mich selbst als liebesbedürftigen und liebesfähigen Menschen. Die Wolke verheisst Regen. Sie verheisst, dass Leben in Fülle möglich ist. Die Erinnerung zu bewahren und aus der Verheissung heraus zu leben, macht es möglich, die Liebe und Gott ein Leben lang und immer wieder neu zu lernen.

Warum aber müssen im Lesungstext die Propheten dreinschlagen? Was muss durch die Worte Gottes getötet werden (6,5)? Vielleicht all das, was den andauernden und lebendigen Prozess Gott zu lernen und lieben zu lernen, abbricht und verhindert: die Angst vor verbindlichen und dauerhaften Beziehungen; rechtliche Regelungen, die erstarren und notwendige Veränderungen verhindern; Beziehungsaussagen, die zu leeren Formeln und einengenden Dogmen werden; Opfer und Rituale, die zu Routinehandlungen verkommen und die falsche Sicherheit vermitteln, wir könnten Beziehung kontrollieren. Prophetinnen und Propheten gehen gegen diese Lebensverhinderungen an. Sie «töten» sie, brechen sie auf, um den Fluss des Lebens und der Liebe wieder freizusetzen, dem die Regelungen, Worte und Rituale ihrem Ursprung und Wesen gemäss dienen.

Mit der Kirche lesen

Jesus will einen Lernprozess initieren: «Gehet hin und lernt verstehen, was es heisst ...» (Mt 9,13). Am Anfang steht ein Essen. Dort werden Früchte der Erkenntnis Gottes gereicht – warum nicht Pflaumen? Gerade den Satz aus dem Buch Hosea verstehen zu lernen, also zu lernen, dass Gott Liebe3 will und nicht Opfer, also zu lernen, dass Gotteserkenntnis und Liebe aufs engste miteinander verbunden sind, ist dem Matthäusevangelium so wichtig, dass es dreimal wiederholt wird: in 9,13, 12,7 und 23,23 (zweimal als wörtliches Zitat, einmal als Paraphrase). Damit etwas wirklich gelernt wird, gleichsam in- und auswendig gelernt wird, by heart bzw. par coeur gelernt wird, braucht es nach jüdischer Überzeugung vier Wiederholungen. Hat das Matthäusevangelium eine Wiederholung zu wenig? Nein. Die vierte Wiederholung muss sich im Leben der Leserinnen und Leser ereignen.4

1 Bertolt Brecht: Erinnerung an die Maria A., in: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt a. M. 41986, 232.
2 Zitiert nach Viktor Malka: Sterne der Weisheit. Perlen jüdischer Mystik. Freiburg i. Br. 2007, 58.
3 In Mt 9 ist statt von «Liebe» von «Barmherzigkeit » die Rede. Vgl. dazu Peter Zürn: Es lebe der Unterschied!, in: SKZ 176 (2008), Nr. 19–20, 329.
4 Im September erscheint im Katholischen Bibelwerk der 12. Band der Reihe WerkstattBibel unter dem Titel «Erinnern und erzählen. Das Markusevangelium in- und auswendig lernen». Darin geben 7 Bibelarbeiten Anregungen zum Lernen von Texten par coeur.