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Psalm 145 – Ein ABC der Barmherzigkeit Gottes   

Gregor Brazerol zum Antwortpsalm am 5. Ostersonntag SKZ 16-17/2007

Die erste Lesung am fünften Ostersonntag (Apg 14,21b–27) berichtet vom Abschluss der ersten Missionsreise des Paulus und Barnabas. Nachdem die beiden Apostel die von ihnen gegründeten Gemeinden noch einmal besucht haben, kehren sie zu ihrem Ausgangspunkt Antiochia in Syrien zurück, wo sie «für das Werk, das sie nun vollbracht hatten, der Gnade Gottes empfohlen » (Apg 14,26) worden sind. Dort ist die christliche Gemeinde erneut versammelt, um zu hören, «was Gott mit ihnen zusammen getan und dass er den Heiden die Tür zum Glauben geöffnet hatte» (Apg 14,27).

Die für die Liturgie ausgewählten Verse aus Ps 145 (1–2.8–9.10–11.13c–14) schliessen wirklich als Antwortgesang an den missionarischen Erfolgsbericht an. Sie können gehört werden als «Te Deum», als Lob- und Dankgesang der Gemeinde auf die Taten, welche Gott durch seine Apostel gewirkt hat. Ps 145 trägt nämlich als einziger Psalm in der Überschrift die Bezeichnung «Lobpreis» (hebr: Tehilla), welche in der hebräischen Bibel als Titel auf das ganze Buch übergegangen ist (Buch der Preisungen). Ps 145 ist also ein Hymnus im eigentlichen Sinn, und er will das so umfassend sein, dass er das Gotteslob von A bis Z durchsingt, d. h. jeder Vers des Psalms beginnt mit einem der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Die Psalmverse sind aber nicht nur den antiken Hörern des apostolischen Berichts in den Mund gelegt. Auch wir, die wir im Jahr 2007 das Missionszeugnis hören, singen Ps 145 als preisende Antwort, denn wir gehören zu den Christen aus den (Heiden-)Völkern, die durch eben diese apostolische Verkündigung Zugang zum Glauben gefunden haben. Dafür ist Gott «immer und ewig» – also auch heute – zu loben und zu preisen.

Ps 145 feiert das Königtum Gottes, seine Gnade und Barmherzigkeit. Durch sie verwirklicht sich sein Name und bewahrheitet sich sein Wesen. All diese Begriffe und Motive stehen im Zusammenhang mit der Ostererfahrung Israels. Gott hatte die Nachkommen Jakobs/Israels in Ägypten zu einem grossen Volk werden lassen. Durch die Erlösung aus der Sklaverei und Unterdrückung hatte er seinen Namen und die damit verbundenen Verheissungen (vgl. Ex 3,14: «Ich bin da») als wirkmächtig erwiesen. Durch den Exodus hatte der Herr sich ein Volk erschaffen (vgl. Ex 15,16) und ist selbst sein «König auf immer und ewig» (Ex 15,18) geworden. Doch weitet Ps 145 den Lobpreis auf die ganze Schöpfung aus. Wie der Herr sich gegenüber Israel als «gnädig, barmherzig, langmütig und reich an Gnade» (Ps 145,8; vgl. Ex 34,6) erwiesen hat, so ist er auch gütig und voll Erbarmen «über all seine Werke» (Ps 145,9b).

Die Lesung aus der Apostelgeschichte nennt ein besonderes Werk, für das Gott mit den Worten von Ps 145 gelobt wird: die apostolische Mission und deren Frucht, die christliche Gemeinde. Hier verbindet sich die christliche Ostererfahrung mit dem Exodus. So wie Gott sich durch den Auszug aus Ägypten ein Volk erworben hat und dessen König geworden ist, so hat er sich die Kirche «durch das Blut seines eigenen Sohnes erworben» (Apg 20,28, vgl. Ex 15,16). Die Kirche als Geschöpf und Werk Gottes preist mit den Worten von Ps 145 ihren Schöpfer und Erlöser und vollzieht, was durch den Propheten Jesaja gesagt ist: «Das Volk, das ich mir erschaffen habe, wird meinen Ruhm (hebr: Tehilla) verkünden» (Jes 43,21).

Paulus nimmt im 9. Kapitel des Römerbriefes diese Gedanken auf. Gott formt die Menschen wie ein Töpfer den Ton (vgl. Röm 9,20 f. mit Jes 64,7). Als der souveräne Werkmeister schafft Gott die Christen als «Gefässe des Erbarmens, die er zur Herrlichkeit vorherbestimmt hat, den Reichtum seiner Herrlichkeit zu erweisen» (Röm 9,23). Dieser Reichtum der göttlichen Herrlichkeit besteht aber gerade darin, dass er die Kirche «nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden» (Röm 9,24) beruft und formt. Gottes Erbarmen und Menschenliebe sind so reich, dass sie die ganze bewohnte Welt umfassen und ihre Fülle in der Vielfalt der Menschen zeigen. Doch sind die göttliche Barmherzigkeit und Herrlichkeit nicht nur räumlich umfassend, sondern auch in der Zeit. Darum führt Gott sein Werk mit grosser Langmut (vgl. Röm 9,22 mit Ps 145,8) zur Vollendung. Dafür muss man Gott einfach loben! Alle «sollen von der Herrlichkeit deines Königtums reden, sollen sprechen von deiner Macht» (Ps 145,11).

Von Herrlichkeit oder Verherrlichung spricht auch die Evangelienperikope des 5. Ostersonntags: «Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist in ihm verherrlicht» (Joh 13,31). Diese Verherrlichung ist wieder ein Osterereignis; sie geschieht im Pascha, im Hinübergang Jesu zum Vater. «Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen» (Joh 12,32). Das Kreuz ist nicht nur Symbol grösster Erniedrigung, sondern zugleich Sinnbild der Erhöhung Christi zum Vater. In diese Bewegung sind aber alle mit eingeschlossen, die zu Christus gehören. Durch das Kreuzesgeschehen finden auch sie Zugang zum Vater und seinem Reich. Die Mission der Apostel gründet also zutiefst in der Verherrlichung Jesu am Kreuz.

Das Johannesevangelium sieht in der Hingabe des Sohnes am Kreuz einen Erweis, wie sehr Gott die Welt liebt (vgl. Joh 3,16), oder im Lobpreis unseres Psalms formuliert: «Der Herr ist treu in all seinen Worten, voll Huld in all seinen Taten» (Ps 145,13cd) – selbst noch am Kreuz. In diesem Gedanken ist das Liebesgebot begründet, das in der Evangelienperikope etwas in der Luft hängt. Im Kreuz Jesu offenbart sich die Liebe des Vaters zu uns Menschen, und diese Liebe und Huld sollen unser Verhältnis untereinander bestimmen. Kirche entsteht und lebt aus der Liebe. «Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger [und Jüngerinnen] seid: wenn ihr einander liebt» (Joh 13,35). An dieser geschwisterlichen Liebe wird das Reich Gottes «jetzt schon» erfahrbar und sichtbar werden als Frucht der göttlichen Liebe. In ihr ist das Reich Gottes in gewisser Weise bereits angekommen, obwohl es erst noch kommen soll und kommen wird (vgl. Offb 21,1–5a = Zweite Lesung).

Psalm 145 verbindet die verschiedenen liturgischen Lesungen und macht deutlich, was in der eucharistischen Feier geschieht. Sie ist der grosse Dank- und Lobgesang auf die Liebe und Barmherzigkeit, die Gott durch seinen Sohn Jesus Christus «all seinen Werken» erwiesen hat. Sie ist die Verherrlichung oder Heiligung des göttlichen Namens, um die wir im Vaterunser genauso beten, wie um das Kommen des Reiches.

Die Perikopen spannen einen weiten Bogen bis ins himmlische Jerusalem hinein. Im hymnischen Bekenntnis stärkt und bekräftigt der Psalm den Glauben und die Hoffnung, dass Gott sein Heilswerk und -wirken, d. h. sein Reich, im «neuen Jerusalem» vollenden wird. Dort wird die Exoduserfahrung Israels und der Kirche («Der Herr stützt alle, die fallen, und richtet alle Gebeugten auf» [Ps 145,14]) zu ihrem Ziel kommen: «Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Tauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen» (Offb 21,4).

P. Gregor Brazerol OSB, lic. iur et mag. theol., ist seit 1987 Mönch der Abtei Disentis. Zurzeit arbeitet er an einer Dissertation über das theologische Konzept in der Psalmverteilung der Tagzeitenliturgie von P. Notker Füglister OSB (1931–1996).