Wir beraten

Das Vermächtnis Israels und das Vermächtnis Jesu   

Dieter Bauer zur Lesung am Gründonnerstag SKZ 10/2008

Alttestamentliche Lesung: Exodus 12,1–8.11–14
Evangelium: Johannes 13,1–15

An Gründonnerstag liest die Kirche interessanterweise keine der synoptischen Erzählungen vom «Letzten Abendmahl», sondern die Fusswaschungserzählung des Johannesevangeliums. Bekanntlich kennt das Johannesevangelium ja auch gar keinen Paschamahlbericht. An der Stelle, an der die synoptischen Evangelien von der Mahldeutung Jesu als Vermächtnis seines Lebens erzählen, berichtet Johannes von der Fusswaschung.

Diese Fusswaschungserzählung könnte für das Christentum dieselbe Bedeutung haben wie für das Judentum der heutige Lesungstext: die Paschaerzählung. Jedenfalls scheint es der Johannesevangelist so gemeint zu haben, wenn er Jesus sagen lässt: «Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe» (Joh 13,15). Das möchte Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern am Vorabend seiner Hinrichtung unbedingt noch mitgeben. Es ist das «Vermächtnis Jesu»!

Mit Israel lesen

Kein Fest hat im Judentum eine grössere Bedeutung als das Paschafest. Das Fest, das die Befreiung der Hebräer aus der Sklaverei in Ägypten erinnert, bindet jede neue Generation immer wieder neu an diesen Ursprung zurück. Die Nacht, in der das Volk in Eile, geradezu fluchtartig, das verhasste Land seiner Unterdrücker verliess, ist heute noch «anders als alle anderen Nächte». Und die jüdische Familie, die sich um den Tisch versammelt, um miteinander Mahl zu halten, erinnert nicht nur die befreiende und erlösende Seite dieser Geschichte, sondern auch die blutige: Das Paschalamm gibt es zwar nicht mehr, seit es keinen Tempel mehr gibt – ein gebratener und angekohlter Knochen erinnert heute daran. Doch auch die bitteren Kräuter und das salzige Wasser erinnern an Blut, Schweiss und Tränen, die in Ägypten vergossen wurden – in allen «Ägypten» der jüdischen Geschichte! Und davon gab es mehr als genug!

All das soll erinnert werden. Die «Ursprungserzählung», die wir in der Lesung hören, ist interessanterweise nicht die von der Rettung am Schilfmeer. Die Rettung steht noch bevor. Die Hebräer haben Angst. Noch immer sind sie in der Rolle der Opfer. Ob die Flucht gelingen wird, ist nicht sicher. Warum wird ausgerechnet an die «Nacht» erinnert, bevor die Rettung geschieht? Die Rettung aus der Unterdrückung ist letztlich Tat Gottes. Es ist nicht an den Hebräern, sich über die Ägypter zu erheben. In dieser Nacht sind sie noch immer die Opfer: Dafür steht das Lamm, das später zum Opferlamm im Tempel werden wird und daran erinnert, dass «Erlösung» und «Befreiung» in dieser Weltzeit immer auch diese blutige Seite haben.

Die Paschaerzählung selbst macht an vielen Stellen darauf aufmerksam: So ist das Blut des Lammes kein apotropäisches Zeichen, wie man vielleicht meinen könnte, quasi um Gott zu signalisieren, dass dieses bestimmte Haus unter einem besonderen «Abwehrzauber» steht. Vielmehr hat dieses Blut nach jüdischer Überzeugung wie das Blut eines Opfertieres sühnende Wirkung für jene, die sich entsprechend geläutert haben und im Haus aufhalten. Es «soll euch ein Zeichen sein», heisst es wörtlich (V.13). So fi ndet sich in rabbinischer Überlieferung auch die Überlegung: «Was nützt das Blut dem (Todes-)Engel, was dem Türpfosten? Vielmehr: Solange die Israeliten Gottes Willen tun, verschont er sie.» Er steigt «über sie hinweg», wie es wörtlich heisst (nicht wie in der Einheitsübersetzung: «vorübergehen»). Das jüdische Wort pasach (davon: Pesach = griechisch: Pascha) bedeutet eigentlich «überspringen», «überschreiten». Sie werden also verschont!

Die ganze Aktion geschieht in Heimlichkeit und grosser Hast. Die Hebräer sind jederzeit bereit, sofort die Flucht anzutreten. Auch das deutet auf die absolute Abhängigkeit vom Eingreifen Gottes.

Eben das wird im Judentum Jahr für Jahr am Sederabend vor dem Paschafest erinnert. Und es wird nicht nur erinnert – und durch die Erfahrungen der Jahrhunderte aufgefüllt, sondern vor allem vergegenwärtigt: «In jeder Generation sehe es der Mensch so an, als sei er selbst aus Ägypten gezogen. Nicht nur unsere Vorfahren hat der Heilige, gelobt sei er, erlöst. Auch uns erlöste er mit ihnen», heisst es in der Pesach-Haggada, der Anweisung für die Feier.

Mit der Kirche lesen

Was anderes ist es, wenn unsere Kirche an das Vermächtnis Jesu in der Fusswaschung erinnert? Auch unsere Erlösung geschieht nicht in einem Triumphzug durch welche Meeresfluten auch immer. Jesus, dem wir es gleich tun sollen mit dem Füssewaschen, hat sich sehr tief gebückt. Und er war sich nicht zu schade, sich die Hände dabei schmutzig zu machen. Die stete Erinnerung daran kann vor jedem kirchlichen Triumphalismus und jeder anderen Überheblichkeit bewahren.

Jesus, der sich in der Evangelienerzählung ganz dem Sklaven gleich macht, dessen «Pflicht und Schuldigkeit» diese Tätigkeit ist, begibt sich damit auch in die Rolle der hebräischen Sklaven in Ägypten. Für ihn ist das der einzige Weg, die über Jahrhunderte fixierten gesellschaftlichen und religiösen Rollenklischees aufzubrechen.

Petrus – im Johannesevangelium bereits Repräsentant der (nicht-johanneischen) Kirche – ist entsetzt: «Du, Herr, willst mir die Füsse waschen?» (Joh 13,6) und bleibt damit in den alten Klischees. Und selbst, nachdem ihn Jesus darüber aufgeklärt hat, dass dieses Handeln heilsnotwendig sei, versteht er nicht wirklich. Er fällt ins andere Extrem: «Herr, dann nicht nur meine Füsse, sondern auch die Hände und das Haupt» (V.9). Und Jesus «wäscht ihm das Haupt». Fast könnte man meinen, hier schon eine deutliche Absage an jeden kirchlichen Sakramentalismus lesen zu können. Aber diese Auswüchse stammen wahrscheinlich erst aus späterer Zeit. «Begreift ihr, was ich an euch getan habe?», fragt Jesus nicht grundlos (V.12). «Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füsse gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füsse waschen» (V.14).

Gerne würde ich das, was am Ende unserer Paschaerzählung steht, auch hier nach der Fusswaschungserzählung anfügen: «Diesen Tag sollt ihr als Gedenktag begehen. Feiert ihn als Fest zur Ehre des Herrn! Für die kommenden Generationen macht euch diese Feier zur festen Regel!» (Ex 12,14).

Wie anders würde unsere Kirche vielleicht heute aussehen, wenn – wie vom Johannesevangelisten überliefert – die Fusswaschungserzählung diese zentrale Bedeutung als «Vermächtnis» und «Gedächtnis» Jesu erhalten hätte wie im Judentum das Paschafest? Auszuschliessen wäre natürlich auch dann nicht gewesen, dass die Fusswaschung im Laufe der Kirchengeschichte irgendwann einmal ein Privileg der Priester geworden wäre. Aber in ihrer Zeichenhaftigkeit hätte sie dies vielleicht eher zu verhindern vermocht – oder hätte zumindest immer wieder selbst Blinde darauf aufmerksam gemacht, dass dann etwas nicht stimmt, wenn es wieder Privilegien gibt. Denn: «Amen, amen, ich sage euch: Der Sklave ist nicht grösser als sein Herr und der Abgesandte ist nicht grösser als der, der ihn gesandt hat. Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt» (Joh 13,16 f.).

1 Die Texte der Lesejahre A und C sind identisch. Wir verweisen deshalb auch auf den Beitrag von Peter Zürn in: SKZ 175 (2007), 195.