Wir beraten

Nicht Sündenfall, sondern Menschwerdung   

Peter Zürn zur Lesung am 1. Fastensonntag SKZ 5/2008

Alttestamentliche Lesung: Gen 2,7–9, 3,1–7
Evangelium: Mt 4,1–11

«Der Sündenfall» – so ist Gen 3 in der Einheitsübersetzung überschrieben. Der Titel stammt nicht aus dem Bibeltext, sondern ist Interpretation. Lässt sich die Geschichte anders lesen?

Mit Israel lesen

«Kol Ischa» («Stimme der Frau») war Buch des Monats Dezember auf www.bibelwerk.ch. Darin kommentieren jüdische Frauen die Wochenabschnitte der jüdischen Leseordnung. Rabbinerin Eveline Goodman-Thau legt den Abschnitt Bereschit (Gen 1,1–6,8) aus. Die Textpassagen, die die katholische Leseordnung zusammenstellt, liest sie so:1

«Wajizer» – «und (Gott) formte (den Menschen)». Das erste Wort von Gen 2,7 beinhaltet zweimal den Buchstaben «Jud». Die rabbinische Auslegung erkennt darin zwei menschliche Triebe, den jezer ha-tow und den jezer ha-ra, den guten und den schlechten Trieb. Der Text illustriert die menschliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit zwischen den beiden Trieben und ihr Verhältnis zu Gottes Vorsehung. Goodman-Thau erkennt die Widersprüchlichkeit von Gottes Handeln: «Wenn Gott wirklich verhindern wollte, dass Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis essen, hätte er sie ja nicht ins Paradies gesetzt, und mehr noch, er hätte sie nicht darauf aufmerksam gemacht.» Sie folgert: «Ergo wollte Gott, dass der Mensch Gut und Böse erkennen soll, und auch, dass der Mensch sterblich ist.» Man ist, was man isst, «durch die Verbindung mit der Welt bekommt der Mensch das Bewusstsein seines Menschseins, Gut und Böse zu erkennen und dementsprechend zu handeln» (30). Gott hat alles vorausgesehen und den Menschen die Wahlfreiheit gegeben (vgl. Dtn 30,15–19). Jüdisches Denken stellt sich gegen jede Vorstellung der Geschichte, welche die menschliche Freiheit eingrenzt. Es hält damit das Paradox zwischen der Allwissenheit Gottes und der menschlichen Entscheidungsfreiheit aus. «Alles ist vorhergesehen, aber die freie Wahl ist gegeben» lautet eine der Grundüberzeugungen (Sprüche der Väter 3,19). Die Grundlage der Weltordnung ist Beziehung, ein Bund zwischen Gott und Menschen. Die eine Seite, Gott, hält diesen Bund aus freier Entscheidung und trotz aller Brüche von Seiten der Menschen. Darin drückt sich die Sehnsucht nach Beziehung (hebr. Chessed) aus. Die menschliche Seite ist aufgerufen, sich frei handelnd in diesen Bund zu stellen. Das wird immer vorläufig und fragmentarisch bleiben und ist doch wesentlich für das Menschsein: «Du brauchst die Arbeit nicht zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich ihr zu entziehen» (Sprüche der Väter 2,21).

Gen 3 beginnt mit der Beziehung zwischen Schlange und Frau. Im (Streit-)Gespräch legen sie die Weisungen Gottes aus. «Hat Gott wirklich gesagt ... ?» – «Von den Früchten der Bäume dürfen wir essen» (3,1–2). Die Frau bezieht Gottes Weisung bezüglich der Bäume auf ihre Früchte, von denen bisher nicht die Rede war. Es wird deutlich, dass es sich bei der Erkenntnis von Gut und Böse um eine Frage von Leben und Tod handelt. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod ist die wesentliche menschliche Herausforderung. Deswegen steht der Baum der Erkenntnis im Mittelpunkt der Geschichte, nicht der Baum des ewigen Lebens. Die Frau nimmt die Herausforderung an und das Risiko des Todes auf sich, weil sie nicht auf die Erkenntnis von Gut und Böse verzichten kann und will. Das ist ja ihre Aufgabe. Dazu wurde sie erschaff en, als «eser» («Hilfe») für den Menschen (Gen 2,18). Das hebräische Wort eser ist in der jüdischen Tradition einer der Gottesnamen. Die Frau ist Hilfe für den Mann, ein von ihm Gegenüber, damit sie sich als Individuen erkennen und zu ihrer Identität finden können. Sie ist Hilfe, damit sie die Wirklichkeit erkennen, Gut und Böse unterscheiden und in freier Entscheidung handeln können. Dafür, für diese verantwortliche und tätige Beziehung (zu allem Lebendigen) ist die Welt erschaff en worden. Darin realisiert sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27).

Die Frau, ischa, nimmt die Herausforderung der Menschwerdung an, sie isst und gibt auch dem Mann, isch, von den Früchten. Jetzt erkennen sie die nackte Wirklichkeit. Sie erkennen die Nacktheit an sich selbst und können sie kaum aushalten. Gott ruft nach dem Menschen: Wo bist du? (Gen 3,9). Goodman-Thau hört in der Frage eine Wehklage, «die von einem Ende der Welt zum anderen schreit, durch alle Zeiten der Geschichte». Auch die Antwort des Menschen durchzieht – leider gleichbleibend – die Menschheitsgeschichte: Die Verantwortung wird abgeschoben, andere werden beschuldigt. Dabei ist die Frage Gottes in Gen 3,13 – «Was hast du getan?» die wesentliche Frage unseres Lebens? «In diesem Moment hätte die Frau die Welt erlösen können, wenn sie zu ihrer Tat gestanden hätte» (33). Das Judentum liest in Gen 3 nichts von Erbsünde. Das Handeln der Menschen in Freiheit ist kein «Sündenfall». Mit diesem Potential sind wir ja von Gott geschaffen und gewollt. Menschen scheitern aber immer wieder daran, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen (das nächste Mal in Gen 4,9). Sie verstecken sich vor Gott und vor sich selbst. Und damit erklärt die Erzählung von Gen 3 die conditio humana: Die Frau, die unter Schmerzen gebiert, begehrt von nun an nicht das Wissen um Gut und Böse, sondern ihren Mann. Und er muss nach harter Arbeit zurückkehren zum Staub, nicht zur fruchtbaren Erde, aus der er doch stammt (der Adam aus der Adamah, dem Ackerboden).

Gott bekleidet und begleitet seine Geschöpfe. Er «bewahrt» sie vor dem ewigen Leben in dieser Form und schenkt es ihnen gleichzeitig: «Das ewige Leben hat er in unsere Mitte gepflanzt – es ist die Gabe der Tora als Weisung für diese Welt und als Tor zur kommenden Welt» (34). Die bleibende Verbundenheit mit dem Leben und Gott zeigt sich jenseits von Eden in der sexuellen Verbindung und Entbindung: Adam erkannte Eva, seine ischa, und sie wurde schwanger und gebar Kain und sagte: «Einen Isch habe ich erworben mit Gottes Hilfe» (Gen 4,1). In der Verbindung mit Adam und über ihn hinaus mit Gott ermöglicht Eva neues Leben: individuell, mit eigener Identität und dabei verbunden mit der schöpferischen Kraft Gottes. Die Rabbinen bezeichnen diese Aussage Evas als erstes Gebet in der Bibel.

Mit der Kirche lesen

Jesus und der Versucher in der Wüste führen ein Streitgespräch um die Schrift, die Weisungen Gottes, auszulegen – genau wie Eva und die Schlange. Wie Eva nimmt Jesus die Herausforderung der Menschwerdung an: Gut und Böse erkennen, in Freiheit handeln. Die Tora als Weisung für diese Welt und als Tor zur kommenden Welt, ist die eigentliche Mitte der Erzählung, der Baum des Lebens mitten in der Wüste. Um die Auslegung der Tora muss gestritten werden. Dafür braucht es ein Gegenüber. Am Schluss des Textes fällt zweimal der Ausdruck «dienen». Aus der Beziehung zu Gott, aus dem Dienst am Leben und der Gerechtigkeit, erwächst die Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung, die wiederum unserem Leben dient. Mk 1,13 nennt hier explizit die wilden Tiere.

1 Eveline Goodman-Thau: Ajeka – wo bist du, Mensch? Bereschit (Gen 1,1–6,8) in: Yvonne Domhardt / Esther Orlow / Eva Pruschy / Kol Ischa: Jüdische Frauen lesen die Bibel. Zürich 2007, 25–38.