Wir beraten

Stolpersteine für Menschenfischer   

Peter Zürn zur Lesung am 3. Sonntag im Jahreskreis SKZ 3/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 8,23–9,3
Evangelium: Mt 4,12–23

Die Bibel «mit Israel [zu] lesen», ist die erklärte Absicht dieser Reihe. Wie liest «Israel» biblische Texte? Drei wesentliche Formen der rabbinischen Bibelauslegung werden hier an den Lesungstexten erprobt:

– den Text Wort für Wort und mit Blick auf die Stolpersteine lesen,
– den Text mit anderen Texten verknüpfen,
– nicht nach der einen richtigen Deutung

des Textes suchen, sondern vielfältige Deutungen ins Gespräch bringen. Daraus ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte für eine Predigt.

Mit Israel lesen

Der erste Vers der Lesung ist nicht einfach zu übersetzen. Das zeigt nur schon ein Vergleich der Einheitsübersetzung (EÜ, nicht abgedruckt) mit der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig (B-R):

«Denn wird düster nicht bald, dem nun bang ist? Zog zur Stunde der Frühre noch leicht gegen es an, nur übers Land Sbulun, nur übers Land Naftali hin, überzieht der Spätre es wuchtend, den Meerweg, das Jenseits des Jordans, den Weltstämmekreis.»

Die EÜ gestaltet den Vers wohl parallel zu den Versen 9,1–2 als Hoffnungsbotschaft. Bei B-R löst sich die Dunkelheit nicht so einfach auf. Kommen die genannten Länder und Regionen in der EÜ später zu Ehren, so werden sie bei B-R nicht mehr nur leicht, sondern mit Wucht überzogen. Wirkt die EÜ so, als handle es sich bei der Strasse am Meer, dem Land Jenseits des Jordans und dem Gebiet der Heiden um weitere Bezeichnungen für die Länder Naftali und Sebulon, so klingt in B-R eine Ausweitung des Horizontes an: zuerst nur Sebulon und Naftali, später der gesamte Weltstämmekreis.

Den offenen Fragen dieses Verses steht die Klarheit der folgenden Verse gegenüber: «Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht.» Es wirkt fast so, als beschreibe der Text seine Wirkung auf die Lesenden. Während der erste Vers dunkel bleibt und Stolpersteine in den Leseweg legt, geht jetzt den Lesenden ein Licht auf. Christliche Übersetzungen scheinen es so zu sehen. Geradezu sperrig dagegen die jüdische Übersetzung von Buber und Rosenzweig. Sie steht damit in der Tradition jüdischer Bibelauslegung, die gerade die Stolpersteine in den Texten interessieren. Sie sind produktiv für die Auslegung. In Jesaja 3,6 heisst es: «Und dieser Stolperstein ist unter deiner Hand (die Einheitsübersetzung übersetzt hier: «Sei der Herr dieser Trümmer»). Der Talmud folgert hieraus: «Kein Mensch kann die Worte der Tora verstehen, bevor er darüber gestolpert ist» (bGit 43a).

Jes 8,23 bietet zahlreiche Stolpersteine. Lesen wir den Vers also nicht zu schnell passend zu den folgenden Versen. Lösen wir die Dunkelheit nicht zu schnell auf. Wohin führt das? Jüdische Auslegung zielt nicht auf die eine, richtige Deutung ab, sondern darauf, verschiedene Wege zu gehen. Hier ist einer davon. Viele andere wären möglich.

Der genaue Blick auf Vers 23 zeigt, dass er für Finsternis ein anderes Wort verwendet als 9,1. In 9,1 stehen sich «choschäk» (Finsternis) und «or» (Licht) gegenüber. Das sind die Ausdrücke, die sich auch im Schöpfungslied von Gen 1 finden. Das Licht, das hier aufstrahlt und die Finsternis besiegt, ist das Licht von Gottes Schöpfungshandeln von Anbeginn an. Anders in 8,23. Der Ausdruck «muap» findet sich nur an dieser Stelle in der Bibel. Es ist eine ganz einmalige Finsternis, eine ganz eigene Erfahrung von Dunkelheit. Gilt das nicht für jede leidvolle und dunkle Erfahrung von Menschen? Sie ist immer einzigartig, immer ganz individuell. Kein Leid ist vergleichbar. Es darf und kann nicht durch den Vergleich mit anderen Erfahrungen relativiert werden.

Neben der Finsternis «muap» steht in 8,23 die Not oder Drangsal «muzap». Dieser Ausdruck fi ndet sich an einer zweiten Stelle in der Bibel, in Hiob 36,16. Dort versucht Elihu, einer von drei Freunden, das Leid Hiobs zu erklären und gibt ihm gute Ratschläge, wie er sich verhalten soll:

«Den Geplagten rettet Gott durch seine Plage und öffnet durch Bedrängnis sein Ohr, auch dich entreisst er dem Rachen der Bedrängnis, in Weite stehst du, nicht in Enge, voll ist deine Tafel von fetten Speisen ... Hüte dich und wende dich nicht zum Bösen. Denn darum wirst du durch Leid geprüft» (36,15f.21) – muss sich Hiob anhören. Das hilft nicht in seinem Leid, im Gegenteil. Eine solche Wirklichkeitsumdeutung verschärft das Leid noch, ist selbst ein Teil der Drangsal, die den verbliebenen Lebensraum weiter verengt. Dagegen schreit und klagt Hiob an – auch Gott.

Wenn das Leiden eines Menschen in seiner Einmaligkeit gewürdigt wird, wenn die leidvolle Situation nicht weggedeutet und auf vertröstende Ratschläge verzichtet wird, dann – und erst dann – kann sich Raum auftun, in dem andere Erfahrungen erinnert und verheissen werden können. Jes 9,1–3 tut das und erinnert ganz vorsichtig – durch vertraute Worte – an die Schöpfung: Licht tritt neben die Finsternis und Gott sieht, dass es gut ist. Das Schöpfungslied von Gen 1 lädt ein und fordert uns als Gottes Ebenbilder heraus, die Welt so zu sehen.

Jes 9,3 erinnert ausserdem ausdrücklich an historische Überlieferungen, den Tag von Midian. Nach der Erzählung in Ri 7 erweist sich eine kleine Schar von Israeliten stärker als die militärische Übermacht ihrer Feinde. Der «Stock des Treibers» verknüpft die Geschichte mit der Exodusüberlieferung (Ex 3,7). Ri 7 erzählt ausführlich von der Angst und der Furcht der Israelitinnen und Israeliten, auch der Gideons (7,10). Aber die Angst nimmt ihm nicht die Kraft, ins feindliche Lager zu gehen und dort Träume zu belauschen. Und sie verhindert nicht, listige und kreative Wege zu finden, den Konflikt auszutragen.

Mit der Kirche lesen

Nach Mt 4 zitiert Jesus Jes 8,23–9,1. Von Vers 8,23 interessieren ihn nur die Ortsangaben. Ziel des Zitates ist es zu begründen, warum seine öff entliche Verkündigung ausgerechnet von Kafarnaum aus ihren Anfang nimmt, das doch im «Galiläa der Heiden» liegt. Was ist von dort her schon zu erwarten (vgl. Joh 7, 41.52)? Finsternis und Drangsal werden aber trotzdem wahrgenommen: Jesus hört vom Schicksal des Täufers. Folgt man der jüdischen Übersetzung (B-R) von Jes 8,23, dann lässt das Matthäusevangelium im Ausdruck «Galilaia ton ethnon» nicht nur den Ausgangspunkt der jesuanischen, sondern auch den Horizont der christlichen Verkündigung anklingen, den Weltstämmekreis. Er steht damit in einer gesamtbiblischen Tradition.

Es ist wichtig, in welche Tradition wir uns stellen. In Mt 4,19 fällt der Ausdruck «Menschenfi scher», der heute ziemlich belastet ist. Ähnlich belastet wohl wie Jes 9,2b, wo die Freude über Gottes Nähe mit dem Jubel beim Verteilen der Beute verglichen wird. Jes 9 stellt das Verteilen der Beute in die Exodustradition: Es ist die Beute und die Ernte derer, die aus Unterdrückung freigekommen sind und die aus der Erinnerung daran nicht selbst zu Unterdrückern werden sollen (Dtn 5,15). Ein biblischer Stolperstein, über den wir stolpern müssen, sonst können wir die Tora nicht verstehen. Was bedeutet das für unsere Berufung zum Menschenfischen?