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Neubeginn   

Winfried Bader zur Lesung am 2. Sonntag im Jahreskreis SKZ 1-2/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 49,3.5–6
Evangelium: Joh 1,29–34

Das zivile Jahr ist knapp drei Wochen alt, das Kirchenjahr dauert seit dem ersten Advent schon etwas länger, aber ganz neu treten wir mit dem kommenden Sonntag in den Jahreskreis der Lesungen ein. Die Lesungen des Tages atmen diese Frische des Neuen. In der zweiten Lesung stellt sich Paulus der Gemeinde in Korinth vor, im Evangelium stellt uns Johannes der Täufer erstmalig Jesus vor, und in der Jesaja-Lesung stellt sich der Knecht vor. Wie das neue Jahr Spannung erweckt, was alles auf uns zukommt, so ist es auch bei der Begegnung mit neuen Personen: Wer sind sie? Was haben sie für einen Charakter, was für eine Vergangenheit? Wodurch können sie sich ausweisen und was werden sie vorhaben? Und umgekehrt bedeutet sich selbst neuen Menschen vorzustellen immer eine Reflexion über das eigene Tun. Sich vorzustellen heisst immer, für sich selbst Zwischenbilanz zu ziehen und sich zu vergewissern, dass man mit dem richtigen Auftrag auf dem richtigen Weg ist.

Mit Israel lesen

Die Lesung aus Jesaja ist eine Zwischenbilanz des Knechtes. Die Auslegungstradition der sogenannten Gottesknechtslieder – die heutige Lesung wird als zweites Gottesknechtslied gezählt – ist unentschieden, ob bei diesem Knecht an ein Individuum (Prophet, König) oder an ein Kollektiv (Israel) zu denken ist. Durch die textliche Einfügung von «Israel» in Jes 49,3 hat eine sehr alte Auslegungstradition, die kollektive Deutung und Identifikation des Knechtes mit Israel favorisiert.

Diese Auslegung lässt sich auch historisch sinnvoll beschreiben: Mit dem Edikt des Kyrus 538 v. Chr. beginnt für die in Babylon Exilierten die Möglichkeit der Rückkehr. Deuterojesaja verkündet und deutet diese politische Möglichkeit als von Gott gelenkt und beginnt mit einem Werbezug für die Rückkehr.

«Heraus aus Babel, flieht aus Chaldäa!
Verkündet es jauchzend, damit man es hört.
Ruft es hinaus bis ans Ende der Erde!
Ruft: Der Herr hat seinen Knecht Jakob ausgelöst» (Jes 48,20).

Die aus Babel Ausziehenden werden als Knechte bezeichnet. Sie stellen sich sowohl dem Gottesvolk als auch der Völkerwelt vor:

«Hört auf mich, ihr Inseln,
merkt auf ihr Völker der Ferne» (Jes 49,1).

Nicht mehr JHWH führt gegenüber den Völkern das Wort (Jes 41,1), sondern in fast den gleichen Worten spricht der Knecht selbst. Er beginnt damit seinem Auftrag zu entsprechen «Bund des Volkes» und «Licht der Völker» zu sein:

«Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt,
der Bund für mein Volk und das Licht für die Völker zu sein» (Jes 42,6).

Die Ausrüstung des Knechtes ist die eines Propheten: das Wort. Es ist in seinem Mund wie ein scharfes Schwert, der Knecht ist wie ein scharfer Pfeil (Jes 49,2). Allerdings wird beides von JHWH noch versteckt gehalten. Kämpft Gott mit verdeckten Waffen? Wozu die Ausrüstung als Schwert und Pfeil, wenn sie noch geheim gehalten wird. Oder – so manche Ausleger – wartet Gott nur den geeigneten Moment ab, wo er diese «Waffen» zückt und damit die Herzen der Völker erobert? Soweit ist der Text Vorgeschichte zur liturgischen Lesung, die danach einsetzt:

«Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel,
an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will» (Jes 49,3).

Vielleicht ist es das, was im Geheimen vorbereitet werden musste, Gottes Herrlichkeit zu zeigen. Jes 49,4 zeigt die Beschwernisse, mit denen die heimkehrwillige Gola zu kämpfen hat. Sie hat die Aufgabe zu zeigen, dass die Rückkehr gut ist, dass hier Gottes Herrlichkeit sichtbar wird. Sie muss Jerusalem so gestalten und beginnen wieder aufzubauen, dass es attraktiv wird, dass es als «Licht der Völker» leuchtet und sich möglichst viele aus der Diaspora auf den Heimweg machen. Es gilt Optimismus zu vermitteln.

Der Knecht lässt sich auch als ein einzelner Mensch deuten. Es wird Rückblick auf ein Berufungserlebnis gehalten, wie die Parallele zur Berufung des Propheten Jeremia in Jer 1,4–10 zeigt. Der Einwand in Jes 49,4 gehört dann unbedingt dazu. Es ist typisch für Propheten, bei der ersten Berufung das eigene Unvermögen und die mangelnden Fähigkeiten Gott entgegenzustellen, z. B. Jeremia: «Da sagte ich: Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung.» (Jer 1,6) oder Jesaja: «Da sagte ich: Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen» (Jes 6,5).

Und es kommt nicht nur bei dem dafür bekannten Jeremia, sondern z. B. auch bei Elija («Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben.» 1. Kön 19,4) vor, dass während der Ausführung des prophetischen Auftrages eine Resignation eintritt. Eine solche Burnout-Situation braucht eine zweite Berufung. Sie ist äusserlich oft weniger dramatisch und braucht keine Theophanie. Sie kann schlicht eine Rückbesinnung sein auf das, was war. Das ist die Methode jeder Therapie, dem nachzuspüren, woher ich komme. Bis zum Mutterleib verfolgt der Knecht sein eigenes Leben zurück und findet damit die eindeutige Linie. Sie entlastet, denn er merkt, die allerletzte Verantwortung liegt nicht beim Menschen, sondern bei Gott: «Mein Gott ist meine Stärke» (Jes 49,5). So tankt er Selbstbewusstsein, um sich bei den anderen als Neuer vorzustellen für seine grosse Aufgabe, die Verschonten Israels wieder heimzuführen (Jes 49,6).

Mit der Kirche lesen

Das Evangelium handelt auch von einem Neuen. Jesus tritt im Johannesevangelium erstmals auf. Er wird vorgestellt als das «Lamm Gottes», als der, auf den «der Geist herabkommt» und als «Sohn Gottes». Diese Attribute nehmen die Gedankenwelt des Ersten Testamentes auf (Lamm Gottes: Lev 16,11, Jes 53,7; Geist: Jes 11,2–4; 42,1; 61,1; Sohn: Jes 9,5). Es sind, wie beim Knecht, Eigenschaften, die im Verborgenen waren («Auch ich kannte ihn nicht» Joh 1,33) und die nun bekannt gemacht werden (Joh 1,31).

Berufungen und Rückbesinnung gibt es auch für uns heute. Jede Berufungsgeschichte ist anders, aber immer geht es darum, dass ein Mensch sich so erkennt, wie sein Leben von Gott her gedacht ist. Darum bedeutet Berufung nicht Entfremdung. Im Gegenteil. Der, der mich beruft, ist ja kein anderer als der, der mich geschaffen hat. Ein Mensch, der seiner Berufung folgt, findet sich selbst und in der Bindung an Gott gewinnt er Freiheit. Die vielen Ansprüche, die uns in unserem Leben begegnen, werden relativiert. Denn längst davor hat Gott schon den Zugriff auf mein Leben – noch bevor erzieherische und gesellschaftliche Einflüsse wirken, ja noch bevor ich mir selbst, meinen Wünschen und Bedürfnissen ausgeliefert bin.

So kann für uns in die Zeit des Jahreskreises hinein die zweite Strophe des Weihnachtsliedes von Paul Gerhardt (1607–1676) nachklingen:

«Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Hh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.»