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Sag, wie hältst du´s mit der Religion?   

Winfried Bader zur Lesung am 30. Sonntag im Jahreskreis SKZ 42/2007

Alttestamentliche Lesung: Sir 35,15b–17.20–22a
Evangelium: Lk 18,9–14)

«Was bedeutet Gott für Sie? Welche Rolle spielt er in Ihrem Leben?» Solche und ähnliche Fragen bringen manch einen ins Stottern. Und doch gibt es einen einfachen Test, um der eigenen Gottesbeziehung auf die Spur zu kommen. Es genügt, dass ich die Frage nach meiner Gebetspraxis stelle. Wann und wie bete ich? Und: Wie rede ich Gott in meinen Gebeten an? Halte ich mich an vorformulierte Texte, oder wage ich das offensichtlich Schwerere, einfach zu sagen, wie es mir zumute ist? Kann ich mich von der weihrauchumwölkten Kirchensprache lösen, in der eigenen Sprache, mit meinen Worten mich selbst sagen? Und: Kann ich off en sein, schweigen, bereit für das, was Gott mir sagen will, und erfahren, dass der enge Raum meines Herzens sich weitet und Begegnung geschieht?1

Aber ist das wirklich schon Religion, wird der Einwand jetzt lauten, gehört da nicht auch die gute Tat, die Diakonie hinzu oder gar voraus. Und die Entgegnung heisst: Religion ist immer zuerst eine Gottesbeziehung. Wie sich dann die Diakonie und anderes gestaltet, hängt einzig davon ab, auf welche Gott ich mich betend in einer Beziehung off en ein lasse.

Mit Israel lesen

«Der Herr ist ein Gott des Rechts, bei ihm gibt es keine Begünstigung» (Sir 35,15b) beginnt die Lesungsperikope und gibt damit einen ersten Hinweis, wie der angesprochene Gott ist. Gerecht ist er, zu allen gleich – so ist der zweite Satz wohl zu lesen. In heutiger Zeit ist das nicht unbedingt ein Kompliment; Bürokraten wird diese Eigenschaft der Gleichbehandlung von allen ohne Rücksicht auf den Einzelfall eher als negative Eigenschaft angelastet. Im Kontext der Welt in Jerusalem um 175 v. Chr., wo eine reiche hellenistische und jüdische Oberschicht Einfluss auf alles nahm, ist die Aussage aber klar positiv. Dieser Gott ist unbestechlich, «er ist nicht parteiisch gegen den Armen» (Sir 35,16), so wird im nächsten Satz dies präzisiert. Nicht dem lauten Geld hängt dieser Gott nach, sondern den Tönen der Armen: «Das Flehen der Bedrängten hört er. Er missachtet nicht das Schreien der Waise und der Witwe, die viel zu klagen hat» (Sir 35,17b–18). Die Perspektive dieses Gottes ist eindeutig die der Armen, sie hat er im Blick, ihnen hört er zu. Der Bedrängte, der Waise, die Witwe, das sind die rechtlosen in der Gesellschaft, die leicht übersehen und überhört werden. Sie haben kein Geld, um Bestechungen durchzuführen. Und sie haben kein Recht, vor Gericht alleine aufzutreten. Sie brauchen jemand, der sich ihrer annimmt. Sie sind ganz existentiell auf andere angewiesen. Ein solcher Gott ist es, der so nah bei den Menschen ist, dass das Flehen der Armen durch die Wolken dringt und dort sein Ziel erreicht (Sir 35,21). Die Reichen der Zeit hinter ihren Palastmauern sind da viel weiter weg, sie hören dieses Flehen nicht. Dieser Gott ist ein gerechter Richter, der eingreift (Sir 35,22).

Damit ist klar skizziert, wie dieser Gott ist. Damit ist auch klar, wie ein Mensch, der sich betend diesem Gott öffnet und bereit ist für das, was er ihm sagen will, handeln wird. Ein Beten zu einem solchen Gott wird keine Privatsache bleiben. Dieses Beten drängt zur Diakonie.

Will man mit Israel (der damaligen Zeit) diese Verse lesen und verstehen, ist der weitere Textzusammenhang hinzunehmen. «Vertrau nicht auf Opfergaben, die durch Unterdrückung erworben sind» (Sir 35,15a) geht unmittelbar unserer Lesung voraus. Die historische Situation kommt in Blick. Die wirtschaftliche und soziale Realität der Ptolemäer und Seleukidenzeit sah so aus, dass es Grossgrundbesitzer gab, jüdische und hellenistische. Die konnten im Wettbewerb des Wachstums und der Gewinnmaximierung nur konkurrenzfähig bleiben, in dem sie Lohnarbeiter ausbeuteten, den kärglichen Lohn immer weiter herabsetzten oder sogar den Arbeitern vorenthielten. Der Gewinn war gross. Damit konnte man bequem nach Jerusalem an den Tempel gehen und seinen Pflichten nachkommen. Ja, nicht nur Turteltauben mussten es sein, sondern ein richtiges Rind als Opfergabe lag bei diesem satten Gewinn schon drin.

Für Jesus Sirach ist ein solches Verhalten, das Darbringen von Opfern, die anderen abgepresst wurden, pure Heuchelei. Glasklar bezieht er Stellung: «Versuch nicht, Gott zu bestechen, denn er nimmt nichts an» (Sir 35,14), ist der harmlosere Einwand, der die Vergeblichkeit, ja man muss wohl eher sagen, Lächerlichkeit, eines solchen Tuns vorführt. In einem ungeheuerlichen Bild verurteilt Jesus Sirach dieses Verhalten in aller Schärfe: «Man schlachtet den Sohn vor den Augen des Vaters, wenn man ein Opfer darbringt vom Gut der Armen» (Sir 34,24). Der Sohn – das sind die Armen, der Vater – das ist Gott selbst. Gott ist der Vater der Armen! Wer zu ihm betend eine Beziehung aufnimmt, sich an ihn wendet wie an einen Vater, der wird damit automatisch zum Bruder und zur Schwester der Armen. Die Vorstellung der Zeit damals, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen meinem Ergehen und meinem Tun, das immer ein bestimmtes Ergehen zur Folge hat, wird damit radikal durchbrochen. Die Armen sind nicht als eine Folge von schlechten Taten arm. Sie sind arm, weil sie von Menschen unterdrückt wurden. Dagegen greift dieser Gott ein.

Er braucht dazu auch Menschen. Ihnen schlägt Jesus Sirach vor:

«Viele Opfer bringt dar, wer das Gesetz befolgt;
Heilsopfer spendet, wer die Gebote hält;
Speiseopfer bringt dar, wer Liebe erweist;
Dankopfer spendet, wer Almosen gibt:
Abkehr vom Bösen findet das Gefallen des Herrn:
als Sühne gilt ihm die Abkehr vom Unrecht» (Sir 35,1–5).

Religion und Opfer, wir dürfen das in gewisser Weise auch gleichsetzen mit Gebet, bekommen so eine neue Dimension. Denn es ist klar: liturgischer Gottesdienst kann nur dann echter Dienst für einen solchen Gott sein, wenn er zugleich diakonisch ist.

Mit der Kirche lesen

Das Evangelium handelt ebenfalls vom Dienst im Tempel, dem Gebet. Es führt uns die unterschiedliche Gebetspraxis von zwei Menschen vor. Es sind beides wohlhabende Menschen, soziale Gerechtigkeit wie bei Jesus Sirach ist nicht das Thema. Beim einen von ihnen erfahren wir sogar, dass er durch Almosen sich um Schwache kümmert, das wird aber weder positiv noch negativ bewertet.

Lukas lässt uns hineinhören, wie die zwei Menschen beten. Beide beten frei, beide beten individuell, beide sprechen Gott an, haben eine Beziehung zu Gott. Bei beiden können wir in eine Gebetsschule gehen.

Was macht dann den Unterschied aus? Es ist wieder das Bild von Gott, das sie haben. Der Zöllner rechnet mit einem barmherzigen Gott, der jedem Menschen gnädig ist. Der andere unterstellt Gott, dass er unterschiedliche Menschen wahrnimmt. Er denkt, Gott unterscheidet zwischen Pharisäern und Zöllnern, zwischen Ehebrecher und Räubern. Und dieser Beter will in seiner besonderen Leistung von Gott geliebt werden. Da überfordert er sich und steht sich selbst im Weg.

Sag wie hältst du es mit der Religion? Die Antwort liegt wirklich im Gebet.

1 Aus Eleonore Beck: Gemeindebibel. Die Lesungen und Evangelien der Messfeier an Sonn- und Feiertagen. Lesejahre A B C. Mit meditativen Einführungen, Verlag Katholisches Bibelwerk. Stuttgart 2004, 699.