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« . . . er lähmt die Hände der Krieger (Jer 38,4)   

André Flury-Schölch zur Lesung am 20. Sonntag im Jahreskreis SKZ 31-32/2007

Alttestamentliche Lesung: Jer 38,4–6.8–10
Evangelium: Lk 12,49–53

Ein mir persönlich bekannter Muslim, der aus Marokko stammt, verliebte sich in eine junge Frau in Frankreich – eine Christin. Die Eltern des jungen Mannes stellten ihm ein Ultimatum: Wenn er weiterhin mit dieser Frau zusammenbleibe, so sei er nicht mehr ihr Sohn, er werde enterbt und dürfe nie mehr nach Hause kommen. Der junge Muslim entschied sich für die Liebe. – Das Leben des Propheten Jeremia, wovon die heutige Lesung einen kleinen Ausschnitt wiedergibt (verständlicher ist eine ungekürzte Lesung Jer 38,1–13), sowie die Worte Jesu gemäss dem Lukasevangelium fordern dazu auf, sich für das Eigentliche und Wesentliche zu entscheiden – notfalls auch gegen die Familienbande.

Mit Israel lesen

Das Wirken des Propheten Jeremia (609–587 v. Chr.) ist aufs Engste verbunden mit der Weltgeschichte (was sich in einer Predigt nur andeuten lässt): Das assyrische Weltreich war untergegangen (612 Fall Ninives). Die Grossmächte Ägypten und Babylon kämpften nun um die Vorherrschaft in Mesopotamien. Juda erhoffte sich nach Jahrhunderten langer Abhängigkeit von den Assyrern politische Selbständigkeit und erreichte diese für kurze Zeit unter König Joschija. Doch als Joschija gegen den ägyptischen Pharao Necho ins Feld zog, fand er den Tod (2 Kön 23,29). Im Jahre 605 v. Chr. unterlag Necho seinerseits dem babylonischen König Nebukadnezzar bei der Schlacht von Karkemisch.

Jeremia erkannte daran offenbar die Stärke Babylons (Jer 25,12). Anders als weite Kreise der Staatsbeamten, Hofpropheten sowie der Könige Judas: Diese hegten weiterhin nationalistische Hoffnungen und träumten der vergangenen Blütezeit unter Joschija nach (Jer 28,1–4). Jeremia versucht dem entgegen, dem judäischen König Zidkija, welcher von Nebukadnezzar als Vasall eingesetzt ist, klarzumachen, dass Jerusalem in die Hand der Babylonier fallen wird (32,1 ff.; 34,2 f.) und dass die Ägypter Jerusalem nicht helfen werden (37,5–10). Zidkija jedoch lässt Jeremia aufgrund seiner Worte gefangen setzen (32,3–5). Offenbar erträgt Zidkija die unbequeme politische Einschätzung des Jeremia nicht, so sehr sie auch zutrifft. Das babylonischen Heer belagert Jerusalem und Jeremia verkündet selbst im Gefängnis: «So spricht JHWH:Wer in dieser Stadt bleibt, der stirbt ...Wer aber zu den Chaldäern (=Babylonier) hinausgeht, der wird überleben» (38,2 f.). Jeremia empfiehlt also, sich den Babyloniern zu ergeben. Offenbar will Jeremia lieber die Abhängigkeit von Babylon in Kauf nehmen, als Krieg, Zerstörung und Elend für Jerusalem und dessen Bevölkerung zu riskieren. Er wertet das Leben der Menschen höher als die politische Unabhängigkeit. Diese Einstellung trägt ihm die Feindschaft der Beamten ein, welche die nationale Eigenständigkeit – und damit wohl v. a. ihre eigenen Pfründe – höher werten als einen Friedenskompromiss: «Dieser Mann muss sterben», verlangen sie, «denn er lähmt mit solchen Reden die Hände der Krieger» (38,4). Jeremia wird als Staatsfeind verschrien, als Überläufer und Verräter, als einer, der die Wehr- und Widerstandskraft des Volkes zersetzt. Weil Jeremia zu seiner Überzeugung steht und den Willen Gottes kundtut, auch wenn dieser unbequem ist, wird er nicht nur vom König und seinen Beamten verfolgt, sondern auch angefeindet von den Bewohnern seines Geburtsortes (11,21), ja selbst von seinen nächsten Verwandten (12,6).

Zidkija gibt Jeremia in die Hände seiner Beamten und diese werfen ihn in den Schlamm einer Zisterne, wo er beinahe umkommt (38,5 f.). Nur Dank der Fürsprache des Kuschiters Ebed-Melech, also ausgerechnet aufgrund eines ausländischen äthiopischen Sklaven (vgl. die Feindschaft in 2 Chr 14), entgeht Jeremia dem Tod (38,7–13). Zidkija erscheint hier wie auch sonst schwach und zwiespältig: Einerseits fragt er Jeremia mehrfach heimlich nach einem Gotteswort (37,17–19; 38,14–28) und nimmt ihn vor den Staatsbeamten teilweise in Schutz (37,20–21; 38,7–13). Andererseits folgt Zidkija Jeremias Rat nicht (38,14–28) und treibt aussenpolitisch ein Doppelspiel: Die Hoffnung setzt er auf politische Unabhängigkeit mithilfe der Ägypter, den Babyloniern jedoch bezeugt er seine Loyalität mittels Tributzahlungen. In der Folge wird Jerusalem durch die Babylonier eingenommen (39,1–5), und Nebukadnezzar spricht das damals übliche Urteil über jemanden, der den Vasalleneid bricht (39,6–10): Zidkijas Söhne werden vor seinen Augen umgebracht, er selbst wird geblendet und zusammen mit der Bevölkerung Jerusalems nach Babylon verschleppt. Jeremia hingegen wird auf Geheiss Nebukadnezars freigelassen (39,11–14).

Jeremia hat an der Botschaft, die er zu verkünden hatte, selber sehr gelitten (vgl. die Konfessionen 11,18–23; 12,1–6; 15,10f.15–18; 17,12–18; 18,18–23; 20,7–18): Er war tief enttäuscht über den Misserfolg seiner Verkündigung. Die Verfolgung durch die staatlichen Behörden sowie die Anfeindung seiner nächsten Verwandten und seiner Landsleute liessen ihn an sich, der Menschheit und an Gott zweifeln. Mehrfach hat er zu Gott um Rache geschrien. Doch von Gott erhielt er die Antwort: «Wenn du Edles redest und nicht Gemeines, darfst du mein Mund sein. Sie sollen zu dir umkehren, nicht du zu ihnen» (15,19). Jeremia soll sich also seinen Feinden nicht gleichmachen. Und so hielt Jeremia an seinem Gott fest und verkündete dessen Willen – allen Anfeindungen zum Trotz.

Mit der Kirche lesen

Lk 12,51–53 lässt erkennen, wie viel Anfeindung und Ablehnung Jesus – und jene, die ihm nachfolgten – erfahren hat: Es sind nicht nur die religiös und politisch Mächtigen, die Jesus umbringen wollen (erstmals Mk 3,16 par). Auch seine Angehörigen sagen: «Er ist von Sinnen» (Mk 3,21; vgl. Joh 7,5). Und in seiner Heimatstadt Nazaret fragen die Leute: «Woher hat er das alles? . . . Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoss an ihm und lehnten ihn ab» (Mk 6,2 f.). Vor dem Hintergrund der Ablehnung ist das Wort vom apokalyptischen Feuergericht Lk 12,49 zu verstehen: Es ist die Hoffnung der kleinen Leute, die selber viel Unrecht bis hin zum Tod erlitten haben, dass Gott die Ungerechtigkeit dieser Welt hinwegfegen und ihnen Recht verschaffen möge (vgl. Joel 2,1–3; Am 1,4 f.; Mal 3,2; Lk 3,9.16 f.). Solche Worte können – aus ihrem Zusammenhang und ihrer geschichtlichen Situation gerissen – in schrecklicher Weise zur religiösen Gewalttat missbraucht werden. Entscheidend ist daher, diese Worte mit Jesu konsequenter Ablehnung von Gewalttätigkeit (Mt 5,38–42) und seiner Feindesliebe zu sehen (Mk 5,44), die – wie Lk 12,50 andeutet – bis hin ans Kreuz geht. Dort überliefert das Lk-Ev ein Wort Jesu, das allen, die den Glauben mit Gewalt durchsetzen wollen, das Schwert (die Bombe, die Denuntiation. ..) aus der Hand nehmen möge: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun» (Lk 23,34).