Wir beraten

Gotteskrisen als Chancen der Erneuerung   

André Flury-Schölch zum Fest der Geburt des hl. Johannes des Täufers SKZ 24/2007

Alttestamentliche Lesung: Jes 49,1–6
Evangelium: Lk 1,57–66.80

«Vergeblich habe ich mich bemüht, habe meine Kraft umsonst und nutzlos vertan» (Jes 49,4), heisst es in der heutigen Lesung. Wer kennt diese Erfahrung nicht? Mit Elan, innerem Engagement und den besten Absichten hat man sich für ein soziales Projekt, eine Pfarreiaufgabe … eingesetzt – und dann brechen aus irgendeinem Grund all die guten Hoffnungen wie ein Kartenhaus zusammen. Es machen sich Enttäuschung und Depression breit. Es kommt zu Sinn- und Glaubenskrisen. Solche Krisen können einzelne Menschen treffen, aber auch eine Glaubensgemeinschaft oder ein ganzes Volk.

Mit Israel lesen

In einer solchen Sinn- und Gotteskrise ist das «zweite» Jesajabuch (Deuterojesaja: Jes 40–55) entstanden: Im 6. Jh. v. Chr. verlor «das» Judentum (Juda/Jerusalem) alles, was ihm religiöse und politische Sicherheit gegeben hatte:1 Tempel, Königtum und Land. Der Tempel, der Jahrhunderte lang als Garant für die Gegenwart und den Schutz JHWHs gestanden hatte, war durch die Babylonier geplündert und zerstört (2 Kön 24f.). Das davidische Königtum, von welchem man glaubte, es sei von Gott eingesetzt und unbezwingbar, war aufgelöst. Das Land, das man als einen von Gott geschenkten «ewigen Besitz» betrachtete, war verwüstet, und viele seiner Bewohner waren nach Babylon verschleppt worden oder nach Ägypten geflohen.

Wo war Gott in dieser Krisenzeit? Weite Teile der jüdischen Menschen wähnten sich von Gott verlassen und vergessen (Jes 49,14) und waren verzweifelt (Ez 37,11). Wie bei Katastrophen üblich, wurden schärfste Schuldzuweisungen vorgenommen – z.B. an die ehemals führenden Leute (Ez 11) oder an fremde religiöse Einflüsse (Ez 6 f.) – und das Exil wurde als gerechte Strafe des zornigen Gottes gedeutet (Ez 7,3.14 u. ö.). Doch gerade in dieser bis anhin schwersten Krise der jüdischen Religionsgeschichte, bahnt sich eine grundlegende Erneuerung des Gottes- und Heilsverständnisses an: Jene Menschen, welche hinter den Aussagen von Jes 40–55 stehen (wahrscheinlich eine Gruppierung im babylonischen Exil, die sich auf den im 8. Jh. v. Chr. wirkenden Propheten namens Jesaja beruft), deuten das Exil nicht mehr ausschliesslich als Strafe und Katastrophe, sondern verstehen es vor allem als Chance zum Neubeginn. Umkehr ist gefordert, und dies heisst nicht Rückkehr zum Althergebrachten, sondern vielmehr Auszug aus dem selbstverschuldeten Exil (48,20–21) und Erneuerung: «Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?» (43,19).

Durch die Krise und die vermeintliche Gottverlassenheit hindurch lassen sich die Menschen des zweiten Jesajabuches zu einem erneuerten Gottesbild inspirieren (was hier nur in Kürze angedeutet werden kann):2 Gott wird als unergründliches Geheimnis (40,12–16; 44,9–20) betont, das nicht dingbar gemacht werden kann (41,6–7.18–20; 44,9–20). Gleichwohl darf diesem Gott zutiefst vertraut werden (51,12–15), denn Gott wird nicht mehr als ein zornig-strafender Gott verstanden, sondern als ein Gott, der Israel wertschätzt und liebt (43,4), es «nie mehr zürnen und schelten» (54,9) wird. Erstaunlicherweise führt der Verlust von Tempel, Königtum und Land im zweiten Jesajabuch bei alledem nicht dazu, einen auf Israel beschränkten «Nationalgott» zu proklamieren, sondern vielmehr zu einem – in der jüdischen Geschichte wohl erstmals hier bezeugten – universalen, monotheistischen Gottesbild: «Ich bin der Erste, ich bin der Letzte, ausser mir gibt es keinen Gott» (44,6; vgl. 43,10; 45,5.21; 46,9).

Dieser gewandelte Gottesglaube entgrenzt auch die Heilssicht: Wenn Gott Ursprung und Schöpfer allen Lebens ist (40,28; 44,22; vgl. Gen 1–2,4a), so kann sich sein Heilswille nicht auf religiös-ethnisch begrenzte Menschengruppen beschränken, sondern richtet sich auf alle Völker (45,22). Daher kann z.B. der fremde persische Herrscher Kyrus als Gesalbter Gottes bezeichnet (45,1) werden, und für die Zukunft wird nicht mehr so sehr das davidische als vielmehr Gottes Königtum erhofft (52,7). Der erneuerte Gottesglaube bewirkt bei den Jüdinnen und Juden der babylonischen Krisenzeit eine erneuerte religiöse Identität: Ihr Mühen ist nicht vergeblich, ihr Leiden nicht umsonst (52,13–53,12, vgl. SKZ 12), sie sollen vielmehr zum Licht für die Völker werden, damit Gottes Heil bis an das Ende der Erde reicht (49,6).3 Mitten in der grössten Sinn- und Glaubenskrise erfahren diese jüdischen Menschen das Wunder eines erneuerten Gottesbildes und eines vertieften Vertrauens auf Gottes Erbarmen und Treue: «vom Mutterleib an», das heisst immer schon und unaufgebbar sind sie von Gott berufen (49,1.5).

Mit der Kirche lesen

In einer ähnlichen, aufgrund der Erfahrung von Kreuz und Auferstehung vertieften und «zurückblickenden» Glaubenszuversicht wird christlicherseits Johannes der Täufer als der von Anfang an berufene Wegbereiter für Jesus Christus verstanden (vgl. das Ev). Gemäss den Evangelien kannte Johannes jedoch Krisen und Zweifel: So kraftvoll er zur Umkehr gerufen und auf jenen verwiesen hat, der nach ihm kommt (Lk 3,1–20), so sehr hat er – historisch gesehen4 – wohl einen andern Messias erwartet. Einen Messias, der mit Macht und Gewalt die ungerechten Herrscher sowie die römische Besatzungsmacht hinwegfegen würde. Aufgrund seiner Kritik an Herodes Antipas wird Johannes ins Gefängnis geworfen (Lk 3,19f.). In dieser persönlich-existentiellen Krise kommt Johannes offenbar ins Zweifeln: Zweifel an seiner eigenen Berufung, Zweifel an der von ihm verkündeten Botschaft und vor allem Zweifel im Hinblick auf diesen Jesus von Nazareth. Er schickt Leute zu Jesus, die ihn fragen: «Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?» (Lk 7,19). Jesus beantwortet die Frage nicht direkt, sondern verweist auf die Wirkkraft seines Lebens: «Blinde sehen wieder, Lahme gehen .. . Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt» (Lk 7,22f.). Wie Johannes auf diese Antwort Jesu reagierte, ob er zu einem erneuerten Messiasbild gelangte, erfahren wir nirgends. Seine Zweifel tun seiner Heiligkeit jedenfalls keinen Abbruch – im Gegenteil.

1 Vgl. Rainer Albertz: Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr. (Biblische Enzyklopädie 7). Stuttgart 2001, 283–323.
2 Z.T. bleibt auch DtJes verhaftet im Herkömmlichen, etwa wenn JHWH als Krieger (42,13) oder Drachentöter (51,9) geschildert oder wenn der Aufstieg der Tochter Zion (52) vor allem auf der Negativfolie des Niedergangs der Tochter Babel (47) gesehen wird – Erneuerungen von Gottesbildern sind lange Prozesse, im individuellen wie im kollektiven Bereich.
3 Mit «dem Gottesknecht» ist wohl je nach Stelle ganz Israel (42,1–4; 52,13–53,12), die im Exil befindliche «DtJes-Gruppe» (49,1–6) oder einer ihrer Repräsentanten (50,4–9) gemeint.
4 Vgl. Gerd Theissen / Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen 1996, 184–198.