Wir beraten

«Dieser Mensch war gerecht!»   

Winfried Bader zur Lesung am Palmsonntag SKZ 12/2007

Alttestamentliche Lesung: Jesaja 50,4–7
Evangelium: Lk 22,14–23,56

Wir haben uns daran gewöhnt als gute Demokraten: Der Mehrheitsentscheid gilt, die Meinung von vielen gibt den Ausschlag und ein Einzelner muss sich diesem Gemeinwohl beugen. Tut er es nicht, wird er sanktioniert durch Gesetz, publizistische Kampagnen oder einfach durch Nicht-Beachtung. Das ist öfters gut so, denn nicht jede Aussenseitermeinung ist sinnvoll. Aber was macht denn die Meinung von allen aus? Kann das nicht auch eine Meinung eines Einzelnen sein – auch wenn wir ihn zunächst verspotten?

Mit Israel lesen

Die Überschrift der Einheitsübersetzung «Das dritte Lied vom Gottesknecht» stellt unseren heutigen Text in eine Auslegungstradition, die dem Kommentar aus Vers 10 folgt, der das Ich der Verse 4–7 mit dem Knecht Gottes identifiziert. So steht der Text in Zusammenhang mit den anderen drei Liedern des Knecht Gottes (Jes 42,1–9: 49,1–9; 52,13–53,12). Mit dieser Verbindung kommt der Text in die theologisch sehr überfrachtete Auslegungsgeschichte, die sich mit dem Messias beschäftigt, der Frage des stellvertretenden Leidens und dem sehr sensiblen Verhältnis zum Judentum. Andere modernen Bibelübersetzungen haben diesen Bezug nicht. So macht der Versuch Sinn, den Text intern nur für sich auszulegen.1

Der Text hat zwei Hauptakteure, ein Ich, das von sich erzählt, und Gott, der drei Mal in der feierlichen Form «Herr YHWH» (so 200 Mal bei Ezechiel, knapp 100 Mal sonst) bezeichnet wird. «Herr» setzt immer zwei Gegenüber voraus; mit dieser Anrede wird eine Beziehung ausgedrückt. «YHWH» ist der Name, Gott wird nicht abstrakt, sondern personal gedacht. Ausserdem sind im Text noch Jünger, Schlagende und Auszupfende genannt, ebenfalls Bezeichnungen von Menschen auf Grund einer Beziehung, eine Beziehung des Lehrens und Lernens oder der Opposition. Einzig der Müde ist eine Benennung, die keine Beziehung voraussetzt; müde ist ein Mensch für sich alleine. Dies aufzuheben, eine Kommunikation und damit eine Beziehung mit dem Müden anzufangen, ist dann das Erste, was das Ich mit der von Herrn YHWH gegebenen Fähigkeit macht.

Schon diese Beobachtungen zeigen, es geht dem Text nicht um abstrakte Theologie, sondern um eine Erzählung von Beziehungen von Menschen mit sich und Gott.

Die Beziehung von Herrn YHWH zum Ich ist sehr eng. Jede seiner vier Handlungen macht er explizit für das Ich. Es heisst: Herr YHWH gibt mir eine Zunge, er weckt mir das Ohr – Morgen für Morgen, die Beziehung ist also dauerhaft, wird jeden Tag neu gelebt –, öffnet mir das Ohr und er hilft mir. Herr YHWH unterstützt das Ich, stattet es mit Fähigkeiten aus, stellt aber keinerlei Forderung, gibt keinen Auftrag. – Das darf man wohl auch auf uns Menschen heute übertragen. Viele Fähigkeiten und Möglichkeiten bekommen wir von Gott geschenkt, aber keinen klaren Auftrag dazu. Unsere eigene Verantwortung und erste Herausforderung ist, selbst zu suchen und zu schauen, wo wir diese fruchtbar einsetzen.

Beim Ich des Textes fällt auf, dass – abgesehen vom Hohelied – an kaum einer Stelle in der Bibel so dicht so viele Körperteile genannt werden: Zunge, Ohr, Rücken, Wange, indirekt auch die Barthaare, Gesicht, auch die Mimik, und der Speichel. Hier steht ein wirklicher Mensch mit seiner Körperlichkeit und seinem Wesen. Einige seiner Körperteile, die ihn fähig machen, hat er von Herr YHWH, der ihm die Zunge gibt und der ihm offene Ohren gibt. Mit den anderen Körperteilen ist er in Kontakt mit den Mitmenschen. Das Ich ist in einer Doppelfunktion: Es ist der Jünger YHWHs (so darf man mit der Einheitsübersetzung und der Guten Nachricht Bibel deuten, die in Vers 4b «hören auf ihn» übersetzen, wobei dieses «auf ihn» nicht im Text steht, sondern aus dem Beziehungswort «Jünger» interpretierend ergänzt wird), das auf YHWH hört und dazu von ihm geweckt wird. Gleichzeitig hat es die Aufgabe, den Müden aufzurichten und ihm ein Wort zu sagen. Das Ich ist in dieser Rolle Meister, der andere der Jünger. – Auch das ist bis heute einfach menschlich: Wir können an andere nur weitergeben, wenn wir selbst empfangend sind.

Die Konsequenz dieser Doppelrolle wird in Vers 5b gezeigt: Die beiden Verben, die man mit widerspenstig sein, wehren, ungehorsam sein, zurückweichen, zurückscheuen übersetzen kann, können als Bezugspunkt Gott haben, also Ungehorsam gegenüber Gott. Das Ich bekommt von Herr YHWH die Ohren geöffnet und richtet sich danach aus. – das ist für uns Leser und Leserinnen heute ein grosses Geheimnis des Textes: Was war denn die gehörte Botschaft? – Diese Deutung des engen Bezugs innerhalb von Vers 5 legen die Übersetzungen nahe, die im Schriftbild die metrische Struktur wiedergeben, wie z. B. manche Ausgaben der Einheitsübersetzung. Beginnt man aber wie z. B. die Gute Nachricht Bibel mit Vers 5b einen neuen Absatz, so wird die Folge des Meisterseins beschrieben: offen auftreten, sich nicht scheuen, gegen Widerstände vorzugehen, klar Position beziehen. Dies führt zu Ablehnung, die sich körperlich ausdrückt. Der Rücken wird geschlagen, die Barthaare ausgerissen und gegen die Verspottung mit Speichel wird das Gesicht nicht verborgen. Gesicht zeigen und in der Mimik sich Enttäuschung und Angst nicht anmerken lassen (Vers 7: «Gesicht hart wie ein Kieselstein»), gelingt – und hier schlägt die Doppelrolle wieder in die andere Richtung um, der Meister wird wieder selbst zum Jünger –, weil das Ich eine Überzeugung hat. Es hat erkannt, wofür es eintritt, das Ich weiss, wenn es für das Richtige eintritt, geht es nicht unter.

Was das Richtige ist, lässt der Text offen. Es ist bis heute für uns Menschen die grosse Herausforderung, das Richtige für sich zu hören und sich zu Eigen zu machen.

Mit der Kirche lesen

Die Anregungen für das Verständnis der Passionsgeschichte des Palmsonntags, die sich aus diesem Lesedurchgang durch den Jesaja- Text ergeben, liegen auf der Hand, und zwar jenseits aller soteriologischen Theorien, die aus Leid Sinn machen wollen, und jenseits von messianischen Weissagungen, die dem Judentum seinen Text wegnehmen. Es geht um ein urmenschliches Phänomen. Wer für eine Überzeugung eintritt, muss mit Widerstand rechnen.Wer diese Doppelrolle so treu ausfüllt, wie es Jesus getan hat, zum einen auf den Vater im Himmel zu hören und zum anderen Meister für die Menschen zu sein, kann dann nicht anders, als mit seiner menschlichen Körperlichkeit bis zur äussersten Grenze, dem Tod, für diese Überzeugung und Sendung einzutreten. Die eigene Form die Lukas dem Bekenntnis des Hauptmanns unterm Kreuz gab, fasst genau dies zusammen: «Das war ein gerechter Mensch» (Lk 23,47).

Am Karfreitag feiern und bedenken wir das Geheimnis unserer Erlösung durch das Kreuz, heute am Palmsonntag richten wir den Blick auf Jesus wie seine Landsleute damals, hören seine Provokationen, sehen die körperlichen Konsequenzen, fragen, ob die demokratische Mehrheit oder dieser Aussenseiter Recht hat und suchen nach seiner tiefen Überzeugung, für die er sein Gesicht auch mit der Dornenkrone zeigte.

1 Die Auslegung folgt eng dem hebräischen Text. Die Übersetzung: Die Bibel. Elberfelder Bibel. Revidierte Fassung. (R. Brockhaus Verlag) Witten 1985, 91 (zugänglich unter www.bibelserver.com) gibt diesen Text bis auf eine Nachlässigkeit in Vers 7 wörtlich getreu wieder.