Wir beraten

«Denkt nicht mehr an das , was früher war!»   

Rita Bahn zur Lesung am 5. Fastensonntag SKZ 11/2007

Alttestamentliche Lesung: : Jes 43,16–21
Evangelium: Joh 8,1–11

Sich von der Vergangenheit zu lösen ist gar nicht so einfach.

Manche verweilen gern in ihren Erinnerungen. Die Gegenwart erscheint ihnen schwierig, die Zukunft ungewiss. In den guten, alten Zeiten wissen sie sich sicher und wohlaufgehoben. Manch andere haben eine schwierige Vergangenheit. Sie scheint ihnen Gegenwart und Zukunft zu verbauen. «Es ist eh schon alles verloren! Was kann ich noch tun?» oder «Ich bin so schlecht, fühle mich so schuldig! Für mich ist alles aus!» sind extreme Positionen, die in abgeschwächter Form vielen bekannt sind und niederdrückend und lähmend genug wirken.

Die Vergangenheit vergangen sein lassen, zwar aus ihr lernen, sich aber nicht an sie klammern, damit man jederzeit neu anfangen und aus jedem neuen Tag eine neue Schöpfung machen kann, ist eine erstaunliche Chance, die erst einmal als Handlungsalternative begriffen und akzeptiert werden muss.

Mit Israel lesen

Die nach Babel und ins Umland exilierten Judäer hören den Propheten in einer Situation, in der es ihnen materiell recht gut gehen mag, sie aber ihrer geistigen und spirituellen Mitte beraubt sind durch die Vertreibung und die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Sie fühlen sich ungeborgen, verlassen und vergessen und geraten in Gefahr, in Fatalismus und Depression zu versinken.

In der geschlossenen Einheit, die der Lesungstext darstellt, erinnert Deuterojesaja zunächst an das Heilsereignis der Vergangenheit. Kunstvoll formulierend und Spannung erzeugend stellt er Jahwe als Initiator und allein Handelnden des Geschehens am Schilfmeer dar: Alles, was so machtvoll daherkommt – das «gewaltige Wasser» wie das «mächtige Heer» –, muss sich doch seiner Absicht und seinem Wollen beugen. Ägypter und Pharao werden nicht genannt; jeder weiss auch so, worum es geht.Weil sie aber nicht genannt werden, öffnet sich der Satz auch auf die Zukunft hin und weckt neue Hoffnung: Möglich, dass Jahwe wieder so mit den Mächtigen verfahren wird! So bereitet der Prophet einen guten Boden für seine Kernbotschaft, die schier Unglaubliches verheisst.

Denn Deuterojesaja geht es um alles andere als eine bloss sentimentale Erinnerung an die goldene Vergangenheit. Der Blick in die Vergangenheit soll im Heute ermutigend und befreiend wirken. Wenn er das nicht tut, kann man ihn getrost bleiben lassen! Ja, angesichts dessen, was kommen wird, wird er ohnehin nebensächlich. Man kann ihn angesichts des unerwartet Positiven der Zukunft ruhig vergessen: «Denkt nicht mehr an das, was früher war!» und «Seht mich als einen, der Neues macht.» Das Volk wird aufgefordert, sich von seinem Glauben an das Verhängnis und vom sich Suhlen im Schuldbewusstsein zu lösen und ganz bewusst auf Jahwe zu setzen, sich seiner Schöpferkraft anzuvertrauen. Dadurch würde es unweigerlich befähigt, seine Blickrichtung zu ändern, vorwärtsgewandt und gegenwartsbezogen zu leben. «Jetzt sprosst es – merkt ihr es nicht?» Wie die ersten Knospen an den Frühlingsbäumen eines aufmerksamen Blickes bedürfen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, so brauchen auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen achtsame Beobachterinnen und Beobachter. Konzentrierten sich die Exulanten nicht länger auf sich selbst, würden sie feststellen, wie brüchig die babylonische Herrschaft bereits geworden ist und in der Person des Kyros eine Änderung ihres Geschicks heraufziehen sehen.

Deuterojesaja wird wohl eine Menge Überzeugungsarbeit leisten und grosse Geduld und Gelassenheit aufbringen müssen; denn es dürfte dem Volk trotz der Schönheit seiner Botschaft schwer fallen, zu tun, was Jahwe verlangt. Kann man ihm denn wirklich glauben, dass er es mit dem radikalen Beiseitelassen der Vergangenheit ernst meint? Dies ist doch gegen menschliche Erfahrung und alle Konvention, die einem z.B. eine Schuld nicht so schnell abnimmt. Andererseits liegt es im vitalen Interesse der Menschen, die Einladung, Veränderung für möglich zu halten, anzunehmen und sich auf den Prozess einzulassen, der dann beginnt. Denn die Alternative dazu ist keine. Vergangenheitsverhaftung endet schliesslich in Lähmung, Erstarrung, Tod. Die Fortführung der Verheissung stellt klar, dass es Gott um das Gegenteil geht. In erneuter Anspielung auf den Exodus nimmt Deuterojesaja Bezug auf die damalige Wüstenwanderung. Die zukünftig für den Heimweg aus dem Exil erforderliche wird die einstige in den Schatten stellen. Diesmal wird es von Anfang an keine Flucht, sondern eher ein Siegeszug sein: Es wird keinen Feind geben, der ihnen nachsetzt, und die Feindlichkeit der Wüste wird durch Wege und Wasserströme, Symbole des Lebens, aufgehoben werden. Allfälligen menschlichen Befürchtungen in bezug auf die Schrecknisse und Unbequemlichkeiten eines solchen erneuten Exodus zuvorkommend, stellt Deuterojesaja mit suggestiven Bildern unmissverständlich klar, dass es Gott ausschliesslich um eines für sein Volk und die ganze Schöpfung geht: Leben und Heil.

Mit der Kirche lesen

Das heutige Sonntagsevangelium führt die deuterojesajanische Heilszusage weiter und wendet sie sehr konkret auf einen einzelnen Menschen an.

Wenn Jesus zur Ehebrecherin sagt «Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!», heisst das auch «Denk nicht mehr an das, was früher war! Nicht weil es nicht wichtig wäre und nicht zu dir und deiner Geschichte gehörte, sondern weil Gott Leben für dich will und du also immer wieder neu anfangen darfst!» Anstatt zu einem Nichts degradiert zu werden, das man auslöschen kann,werden die Menschenwürde und der positive Selbstwert der traumatisierten Frau bestätigt und bestärkt.

Aber auch die Schriftgelehrten werden nicht festgelegt auf das, was gerade eben geschehen ist und was ihrer langjährigen Prägung entspricht. Jesus schaut und schreibt auf den Boden. Er konfrontiert sie nicht mit strafenden Blicken, übergiesst sie nicht mit heftigen Emotionen, ausgiebiger Argumentation oder gar Verdammung. Stattdessen gibt er ihnen mit dem einen Satz «Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.» die Möglichkeit, sich zu besinnen, Grundlegendes zu erkennen, neu zu werden. Auch sie dürfen sich so frei fühlen zu sagen: «Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich aus nach dem, was vor mir ist» (Phil 3,13).

Die Vergangenheit auf sich beruhen lassen, sich nicht mit Schuldzuweisungen an sich selbst oder andere lähmen, sich nicht von der Flut negativer Informationen aus den Medien beeindrucken lassen, sich von der eigenen Schwarzseherei lösen – das bleibt eine stetige Herausforderung, braucht grosses Vertrauen und bedeutet Lebenskunst.