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Der dunkle Apostel: Judas   

Dieter Bauer, entdecken: apostel. Lese- und Arbeitsbuch zur Bibel 2006, S. 46-57

Keiner der Apostel hat die Phantasie der Menschen so sehr beschäftigt wie der Apostel Judas Iskariot. Als der «Schurke» im Drama um Jesu Verhaftung und Hinrichtung scheint seine Rolle auf den ersten Blick klar zu sein. Doch auf den zweiten Blick und mit ein wenig Nachdenken merkt man, dass einiges «dunkel» bleibt bei diesem Apostel:
 Was genau soll er denn verraten haben?
 Und: Wusste Jesus etwa nicht, wen er da in seinen Jüngerkreis berufen hatte?
 Lag womöglich auch der «Verrat» in der Absicht Jesu?
 Und: Kann man Judas dann überhaupt dafür schuldig sprechen?
Solche Fragen haben sich Leserinnen und Leser der Bibel schon immer gestellt. Und spätestens seit der Veröffentlichung des Judasevangeliums wissen wir, dass es bereits in der frühen Christenheit Menschen gab, die den Apostel Judas – ganz gegen die Tradition – vollkommen positiv sahen, ja ihn geradezu als den einzig «wahren Jünger Jesu» verstanden.
Nun ist das Judasevangelium erst viele Jahre nach den uns bekannten vier Evangelien entstanden, so dass man ihm keine glaubwürdigen Informationen mehr über den historischen Judas entnehmen kann. Aber bereits die Evangelien des Neuen Testaments zeichnen schon sehr verschiedene Bilder von Judas Iskariot. Diesen Judasbildern soll im Folgenden einmal nachgegangen werden:

Die Judasbilder der Evangelien
Alle vier Evangelien sind sich darin einig, dass es einer der zwölf von Jesus ausgewählten Apostel war, der Jesus seinen Gegnern «ausgeliefert» hat: Judas Iskariot. Nur Lukas spricht von «Verrat». Und das auch nur an einer einzigen Stelle (Lk 6,16). Trotzdem gilt Judas als der exemplarische «Verräter», weil die meisten Bibelausgaben das griechische Wörtchen paradidónai so übersetzen. Es ist im Griechischen aber viel offener und kann übersetzt werden mit «übergeben», «überliefern» oder eben «ausliefern». Schon im ältesten Evangelium, dem des Markus, wird die Tat des Judas so charakterisiert. Das deutet zwar auf alte Überlieferung, aber auch darauf, dass schon Markus nicht mehr so genau wusste, wie man sich die Tat des Judas im Detail vorzustellen hat.
Damit aber sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Judasbildern der Evangelisten auch schon beschrieben. Ansonsten nämlich zeichnet dann doch jeder ein ganz eigenes Porträt dieses Jüngers. Und dieses wird vor allem immer dunkler, je später das Evangelium entstanden ist:

Markus: «Einer der Zwölf»
Für Markus ist wichtig zu betonen, dass Judas genau wie alle anderen Apostel von Jesus ausgewählt wurde. Dreimal betont er, Judas sei «einer der Zwölf» gewesen (Mk 14,10.20.43). Damit macht er darauf aufmerksam, dass die Gefahr des Abfalls von Jesus eine grundsätzliche Möglichkeit für alle ist, die in seiner Nachfolge stehen. Selbst Petrus wird im Markusevangelium bekanntlich als «Satan» tituliert (8,33). Er ist es, der Jesus erst von seinem konsequenten und risikoreichen Weg nach Jerusalem abzubringen versucht und ihn dann nach seiner Verhaftung dreimal verleugnen wird. Das heisst doch aber: Niemand sollte es sich zu einfach machen und auf Judas mit dem Finger zeigen. Auch wenn Jesu Weheruf dem Judas gilt (14,21) – es hätte auch jeder andere seiner Jünger sein können.

Matthäus: der «Verzweifelte»
Matthäus macht sich als Erster wirklich Gedanken über die Motive des Judas. Und er findet sie in seiner «Geldgier». Hatte Geld bei Markus nur am Rande eine Rolle gespielt – die Hohepriester boten Judas erst welches an, nachdem er selbstständig mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte –, so fragt Judas bei Matthäus direkt danach: «Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten ihm dreissig Silberstücke.» (Mt 26,15) Diese lächerlich geringe Summe verdankt sich nicht etwa historischer Erinnerung, sondern zitiert das Alte Testament und ist dort der Spottpreis für einen «Sklaven» (Ex 21,32), mit dem sich Israels Führer eines unbequemen Propheten entledigen (Sach 11,12).
Allerdings erzählt Matthäus auch davon, dass Judas «von Reue gepackt» wird: «Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert.» Nachdem die Hohepriester und Ältesten aber jede Verantwortung ablehnen (»Was geht das uns an? Das ist deine Sache»), wirft er ihnen das Geld wieder vor die Füsse und erhängt sich in seiner Verzweiflung (Mt 27,3-5).

Lukas: «vom Satan ergriffen»
Die Erzählung vom Ende des Judas nach Matthäus hat auch eine Entsprechung bei Lukas. In seiner Apostelgeschichte erzählt er: Judas «stürzte ... vornüber zu Boden, sein Leib barst auseinander und alle Eingeweide fielen heraus» (Apg 1,18). Beide Erzählungen vom Ende des Judas sind miteinander nicht in Einklang zu bringen und sicher Legende. Gerade die lukanische Erzählung vom Tod des Judas erinnert an andere biblische Erzählungen vom Ende der Gottesfeinde (Antiochus IV.: 2 Makk 9,5ff; Herodes Agrippa: Apg 12,21ff).
Im Gegensatz zu Markus und Matthäus, die nur von «ausliefern» sprachen, stellt Lukas als Einziger den Apostel Judas als «Verräter» vor (Lk 6,16). Und er spricht zwar auch von Geld (22,5), aber das ist nicht das Hauptmotiv des Judas. Für Lukas steht hinter der ganzen Judasgeschichte eine andere Wirklichkeit: «Der Satan aber ergriff Besitz von Judas, genannt Iskariot, der zu den Zwölf gehörte.» (22,3) Nun zum Werkzeug des Satans geworden kann sich Lukas auch keine Reue des Judas mehr vorstellen. Von daher ist sein grässlicher Tod (s.o.) die logische Konsequenz.

Johannes: ein «Teufel»
Das dunkelste Bild von Judas aber malt der Verfasser des Johannesevangeliums. Hier ist Judas von Anfang an ein Ungläubiger (Joh 6,64), ja ein «Teufel» (6,70). Das Geld spielt für ihn eine ganz wichtige Rolle. Er verwaltet nicht nur die Gemeinschaftskasse, sondern bedient sich auch daraus, wie im Zusammenhang der Salbungserzählung erwähnt wird. Dort nämlich sind es nicht einfach «einige» (wie bei Markus) oder «die Jünger» (wie bei Matthäus), die über die grosszügige Salbung Jesu unwillig werden, sondern der «Dieb» Judas ganz allein, «der ihn später auslieferte» (Joh 12,4).
Hinzu kommt: Jesus weiss vom Unglauben des Judas von Anfang an. Damit will der Evangelist klarstellen, dass Jesus nicht etwa «versehentlich» einen solchen Jünger berufen hat. Berufung aber schützt nicht vor Unglauben und Abfall. Diese Feststellung ist wohl vor allem an die Leserinnen und Leser des Johannesevangeliums gerichtet – und damit auch an uns.
Das souveräne Handeln Jesu ist für den Johannesevangelisten ein so wichtiges Motiv, dass es bei ihm nicht Judas ist, der den «Verrat» in Gang setzt, sondern eigentlich Jesus, der ihn beim letzten Mahl entlarvt, indem er ihm den Bissen reicht und ihn zu raschem Handeln auffordert (13,26f). Selbst, dass der «Satan» in ihn hineinfährt, ist letztlich durch Jesus veranlasst. Und als Judas geht, verlässt er nicht einfach nur den Raum, sondern das «Licht der Welt»: «Es war aber Nacht» (13,30). Nicht einmal bei der Verhaftung Jesu darf Judas eine tragende Rolle spielen. «Jesus, der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte,» geht aktiv auf seine Häscher zu und fragt sie: «Wen sucht ihr» (18,4). Dreimal fallen sie zu Boden, als Jesus sich ihnen offenbart. Und es ist vollkommen klar, dass sie ohne die Zustimmung Jesu nichts, aber auch gar nichts gegen ihn unternehmen könnten.
Diese starke Betonung der Handlungssouveränität Jesu im Johannesevangelium hat natürlich viele zu der Frage geführt, inwiefern Judas nicht einfach nur ein unschuldiges Werkzeug im bedeutenderen Heilsplan des Gottessohnes sei. Ist Judas überhaupt frei in seinen Entscheidungen?
Doch: Das Johannesevangelium lässt daran keinen Zweifel. So wie sich Judas zum Unglauben entschieden hat, hätte er auch der Aufforderung Jesu folgen können, «dass ihr an den glaubt, den er (Gott) gesandt hat» (6,29 u.ö.). Diese mehrmaligen Aufforderungen Jesu würden keinen Sinn ergeben, wenn der Mensch nicht wirklich frei zum Glauben wäre. Dem widerspricht auch nicht die Aussage, dass keiner zum Glauben komme, wenn nicht Gott ihn «zieht» (6,37.39.45; 17,2). Denn Gott möchte, dass alle Menschen «das Leben haben und es in Fülle haben» (10,10).

Was können wir von Judas wissen?
Der Vergleich der vier Evangelien zeigt, wie sich bereits jeder einzelne Evangelist sein eigenes Bild von Judas gemacht hat. Nimmt man das Wenige zusammen, worin sich alle vier Evangelien tatsächlich einig sind, dann bleibt an historisch Verlässlichem nicht viel übrig:
Judas war «einer der Zwölf». Er stammte wohl aus Judäa – wenn denn das Isch Kerioth (= «der Mann aus Kerioth») eine Herkunftsbezeichnung ist. Im Zusammenhang mit Jesu Verhaftung und Tod hat er eine undurchsichtige Rolle gespielt. Über seine Motive wissen wir nichts – Geldgier jedenfalls scheidet eher aus. Und über seinen weiteren Weg nach Jesu Leiden und Sterben wissen wir auch nichts Genaues, weil schon die Evangelisten darüber sehr verschiedene Auskunft geben.
Dass wir so wenig historisch Verlässliches von Judas wissen, mag zunächst einmal ernüchternd wirken. Doch: Kein einziger der Evangelisten war an einer historischen Biographie des Judas interessiert. Das, was uns heute so interessieren würde: was nun wirklich war mit Judas und Jesus, interessierte die damaligen Autoren gar nicht so sehr. Viel wichtiger war ihnen, was all das für sie selbst bedeutet. Sie waren interessiert an den dahinter stehenden Mächten, dem Heilswillen Gottes – und den Mächten des Bösen. Sie trieben Theologie und nicht Geschichtswissenschaft. Und das, was sie theologisch zu erkennen glaubten, formten sie in Geschichten und Legenden – angefangen beim angeblichen Motiv der Geldgier bis hin zu den Erzählungen von seinem unrühmlichen Ende.

Vom Missbrauch des «Judas»
Insofern wurde Judas verwendet als negatives Beispiel für alle, die sich in die Nachfolge Jesu begeben hatten. Judas wurde geradezu zur «Projektionsfläche» für die eigenen dunklen Anteile und Ängste, die Angst vor dem Versagen und die Angst davor, auch selber zum «Verräter» an der eigenen Berufung werden zu können.
Diese Tendenz hat leider furchtbare Auswirkungen im Verlauf der Kirchengeschichte gehabt:
Wie ein «Sündenbock» hat Judas nach und nach alle Schuld auf sich gezogen. Einmal «in diese unbarmherzige Mühle des Vorurteils hineingeraten» (Willibald Bösen), wurde er innerhalb weniger Jahrzehnte «zermahlen». Worin seine persönliche Schuld gelegen hat, wissen wir nicht. Mit dem Finger auf ihn zu zeigen, steht uns deshalb sicher nicht an.
Wirklich verheerend hat sich ausgewirkt, dass «Judas» – sein Name bot sich dazu leider an – im Lauf der Geschichte zum Inbegriff des «Juden» schlechthin geworden ist. Als «geldgieriger Verräter» gebrandmarkt löste er über Jahrhunderte hinweg christliche Pogrome und Ausschreitungen gegen Juden – bevorzugt in der Karwoche – aus. Noch im 19. und 20. Jahrhundert wurden in vielen Gegenden Deutschlands Strohpuppen im Osterfeuer verbrannt, die den verräterischen «Judas» darstellen sollten. Als «ewiger Jude» wurde Judas als Begründung für die laufenden Vertreibungen und Misshandlungen der Juden benützt, die als Folge des «den Juden» zugeschriebenen «Gottesmordes» auch noch gerechtfertigt wurden. Der Holocaust im 20. Jahrhundert – der millionenfache Völkermord an den Juden – war daraus die letzte Konsequenz.

Andere Judasbilder
Zum Glück haben nicht alle Menschen das, was sie von Judas eben nicht wissen konnten, die Leerstellen in den Evangelien, negativ gefüllt. Immer wieder haben Literatinnen und Literaten sich auch noch einen ganz anderen Judas vorstellen können. Marie Luise Rinser mit ihrem Roman «Mirjam», Stefan Heim mit seinem «Ahasver» oder Walter Jens mit seinem Buch «Der Fall Judas» sind nur drei Beispiele für Versuche einer Rehabilitation des Judas. Natürlich sind solche Rechtfertigungsversuche genauso Phantasieprodukte wie die oben genannten negativen Projektionen. Aber sie sind wichtig, um das Judasbild offen zu halten: für unsere eigene Meditation, für unsere Selbsterkenntnis, für unser eigenes Nachdenken über die in uns selber wohnenden «dunklen» Anteile und Möglichkeiten. Genau so war dies bereits von den Evangelien des Neuen Testaments gedacht.

Bibelarbeit

1. Sich dem Bibeltext nähern

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (TN) erhalten rote Kärtchen, auf denen sie zunächst einmal in Einzelarbeit für sich aufschreiben sollen, was sie aus den Evangelien von Judas wissen (nicht vermuten!).
Dann erhalten sie in einer zweiten Runde gelbe und blaue Kärtchen, auf denen sie negative (blau) und positivere (gelb) eigene Vermutungen und Früchte ihres Nachdenkens über Judas notieren sollen.
Auf einem grossen Plakat mit der Überschrift «Judas» werden die Kärtchen dann in drei Spalten aufgeklebt und gemeinsam betrachtet. Die Leitung (L) lädt ein zu einem ersten Austausch über die dort formulierten «Judasbilder».
Wichtig dabei ist, das Gespräch offen zu halten, d. h. von vorneherein darauf hinzuweisen, dass wir historisch so wenig wirklich über Judas wissen, dass eigene Überlegungen legitim sind und schwer zu entscheiden ist, welches «Judasbild» die grössere Plausibilität für sich beanspruchen kann.

2. Auf den Bibeltext hören

L macht darauf aufmerksam, dass bereits die Evangelisten selbst sehr unterschiedlich von Judas erzählt haben. Die folgende Textarbeit will diesem unterschiedlichen Erzählen auf die Spur kommen.
Die TN erhalten ein Arbeitsblatt, auf dem die Texte der Salbungserzählungen des Markus, des Matthäus und des Johannes parallel abgedruckt sind:
Markus 14,3-9; Matthäus 26,6-13; Johannes 12,1-8

Je zu zweit sollen die drei Textfassungen miteinander verglichen werden:
 Wie kommen die Jünger bzw. Judas in der Salbungserzählung vor?
 Lässt sich eine Entwicklung vom Markus- zum Johannesevangelium feststellen?
Im Anschluss daran findet ein Austausch im Plenum darüber statt, wie sich das Judasbild im Laufe der Überlieferung immer mehr verdunkelt hat.

3. Mit dem Bibeltext weitergehen

Die TN betrachten die beiden Bilder «Petrus» und «Judas» von Sieger Köder (in diesem Buch) aus dem Büchlein: Menschen in der Passion. Bilder und Texte von Sieger Köder, Ulm 21974 (Kopien, Folien oder Dia, erhältlich bei Kirchlichen Medienstellen). Beide haben auf ihre je eigene Weise Jesus «verraten». Wie gehen sie mit dieser Schuld um?
L gibt einige Beobachtungshinweise für die Bildbetrachtung:
Beide – Petrus und Judas – sind von Jesus zum Jünger berufen worden und sind ihm nachgefolgt. Beide waren von Jesus fasziniert gewesen, beiden war er Vorbild gewesen. Mit beiden hatte Jesus Gemeinschaft. Mit beiden war er auch zu seinem letzten Mahl zusammengesessen und hatte ihnen das Brot gereicht.
Beide aber hatten ihn auch verraten, Judas im Garten Getsemani, Petrus im Vorhof des Hohenpriesters. Mit diesem Schuldgefühl aber sind sie nach Überlieferung der Evangelien unterschiedlich umgegangen: Während Judas – so zumindest in der Darstellung Sieger Köders – der Bissen Brot den Hals zuschnürt, kann Petrus über sein Versagen weinen. Der Schmerz, die Trauer und die Tränen über das eigene Versagen lassen für Petrus eine Zukunft zu. Judas schafft das nicht – und sucht den Tod.