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«Wie ein Nackter in der Wüste. . .»   

Dieter Bauer zur Lesung am 6. Sonntag im Jahreskreis SKZ 5/2007

Alttestamentliche Lesung: Jeremia 17,5–8
Evangelium: Lk 6,17.20–26

Es gibt Menschen, die sind so «klug und weise», dass man sich ihre Lebensweisheiten schon gar nicht mehr anhören will. Auf jeden Topf finden sie den passenden Deckel und auf jede Lebenssituation eine «Antwort». Zu allem, egal wie verstörend und tragisch, fällt ihnen der passende Spruch ein. Für sie ist die Welt durchschaubar und einfach strukturiert, und nichts kann sie aus der Bahn werfen. Ich muss zugeben, dass ich dagegen ziemlich allergisch bin.

Mit Israel lesen

Eine solche leicht allergische Reaktion befiel mich auch, als ich die Weisheit des Jeremia zum ersten Mal las, die im heutigen Lesungstext steht:

Verflucht der Mann, der auf Menschen vertraut . . . Gesegnet der Mann, der auf den Herrn sich verlässt . . . (Jer 7,5.7)

Ja, ist das denn so einfach? Und was soll denn daran schlecht sein, sich auf Menschen zu verlassen? Sollen wir allen und jedem Menschen misstrauen? Wer kann denn so leben? Doch: Sind das wirklich die angemessenen Fragen an diesen Text?

Hier bewahrheitet sich einmal mehr, dass man Texte nicht aus dem Zusammenhang reissen darf, wie das unsere liturgische Leseordnung leider oft gezwungenermassen tut. Diese «Weisheit» des Jeremia steht nämlich in einem ganz bestimmten Textzusammenhang. Und es geht um eine sehr spezielle historische Erfahrung des Propheten.

Jeremia war in einer absoluten Krisenzeit des Staates Juda aufgetreten (vgl. SKZ 175 [2007], Nr. 3, 27). Auch wenn es für die meisten wahrscheinlich nicht sichtbar war: Das Königreich war auf dem absteigenden Ast. Und das 17. Kapitel des Jeremiabuches, aus dem unser Lesungstext stammt, beginnt dann auch mit einer regelrechten Tirade Gottes gegen die Verkommenheit der Judäer, denen er den Verlust des Landes und die Gefangenschaft androht. Der Prophet, der seinem Volk in hoffnungsloser Situation das Gericht androhen muss, wird natürlich nicht gehört. Das ist das Schicksal des Propheten. Und natürlich ist er auch nicht gerade optimistisch, was die Fähigkeit des Menschen zur Umkehr betrifft: «Ändert wohl ein Neger seine Hautfarbe oder ein Leopard seine Flecken? Dann könnt auch ihr euch noch bessern, die ihr ans Böse gewohnt seid» (Jer 13,23). Jeremia, der als Schwarzmaler verschrieen ist und als Staatsfeind mehrmals im Gefängnis landet, wird Recht behalten: Der judäische Staat ist dem Untergang geweiht und wird innerhalb von 10 Jahren zweimal von den Babyloniern erobert werden. Das Königshaus und die «oberen Zehntausend» (2 Kön 24,14) werden ins Exil verschleppt werden.

Nein, auf die Menschen konnte sich Jeremia wirklich nicht verlassen.Was das bedeutet, hat er am eigenen Leib erfahren müssen: «Wie ein Nackter in der Wüste» (17,6) war er dagestanden – so der hebräische Text wörtlich. Angesichts einer Gesellschaft, deren «Sünde mit eisernem Griffel, mit diamantenem Stift eingegraben in die Tafeln ihres Herzens» ist (17,1), bleibt ihm nur noch die Hoffnung auf Gott, der einen neuen Text auf ihre Herzen schreibt (31,33) oder, wie der gleichzeitige Ezechiel meint, eine Totaloperation: «Ich nehme das Herz von Stein aus ihrer Brust und gebe ihnen ein Herz von Fleisch» (Ez 11,19).

Die «Sünde» der Judäer, um die es in unserem Text geht, ist dabei nicht irgendeine, sondern wird klar benannt: durch Unrecht erworbener Reichtum (Jer 17,11)! Diesen werden die Judäer in der Katastrophe des staatlichen Zusammenbruchs verlieren: «Dein Vermögen und alle deine Schätze gebe ich zur Plünderung preis als Lohn für all deine Sünden in deinem ganzen Gebiet» (Jer 17,3). Jeremia sieht es deutlich: Eine Hand wäscht die andere, die Reichen können sich aufeinander verlassen nach dem Motto: Wenn jeder nach sich selber schaut, ist nach allen geschaut. Das meint bei Jeremia «sich auf Menschen verlassen».

Mit der Kirche lesen

Wenn Jesus nach dem Lukasevangelium in der «Feldrede» die Armen seligpreist und den Reichen sein «Wehe» entgegenschleudert, weil sie keinen Trost mehr zu erwarten haben (Lk 6,20.24), dann liegt er ganz auf der Linie des Propheten Jeremia. Zumindest hat Lukas die Seligpreisungen Jesu in Richtung Jeremias «profiliert». Denn Arme kann man nur dann seligpreisen, wenn sich an ihrer Situation etwas ändert. Armut als solche seligzupreisen wäre zynisch. Und an der Armut ändert sich nur dann etwas, wenn die Reichen beginnen zu teilen. Das wäre der Beginn des Reiches Gottes, das dann den (ehemals) Armen gehört. Das war die Botschaft Jeremias an die Judäer, die ihren «durch Unrecht erworbenen Reichtum» horteten, und das war die Botschaft Jesu nach Lukas.

Wie aber kommen Reiche dazu, von ihrem Reichtum abzugeben? Da war der Optimismus Jesu auch nicht grösser als der des Jeremia: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt» (Mk 10,25 par.). Und selbst vom reichen Jüngling, den Jesus lieb gewinnt, weil er wirklich auf dem richtigen Weg ist, erfahren wir nicht, ob er den Rat Jesu «für fortgeschrittene Reiche» beherzigt hat: «Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!» (Mk 10,21).

Das aber hätte, jetzt wieder ganz nach Jeremia, geheissen, «sich auf den Herrn verlassen» (Jer 7,7). Den Schatz im Himmel, d. h. bei Gott, zu haben und nicht nur dem mit Unrecht erworbenen «Mammon» nachzulaufen, ist auch ein ganz wichtiges Thema im Lukasevangelium. Jesus lädt dazu ein, sich nicht unnötig Sorgen zu machen um Dinge, um die Gott doch längst weiss: «Euch (…) muss es um sein Reich gehen; dann wird euch das andere dazugegeben» (Lk 12,31).Wer sich so auf Gott verlässt, vermeidet, eines Tages «wie ein Nackter in der Wüste» dazustehen, oder wie man hier in der Schweiz sagt: «mit abgesägten Hosen».