Wir beraten

Sich erschüttern lassen   

Rita Bahn zur Lesung am 5. Sonntag im Jahreskreis SKZ 4/2007

Alttestamentliche Lesung: Jes 6,1–2a.3–8
Evangelium: Lk 5,1–11

Im Lauf des Lebens gibt es wohl für jeden Menschen einen Ruf oder auch mehrere, die ihn an seinem individuellen Ort ereilen. Manchmal sind sie die Folge langgereifter Überlegungen, manchmal entstehen sie spontan aufgrund eindrücklicher, berührender Erlebnisse. Sie können gehört oder überhört werden, je nachdem ob sie auf wache oder auf «verfettete Herzen» und «verklebte Augen» treffen. Vieles auf unserer Erde wartet auf Menschen, die bereit sind, sich betreffen, erschüttern, in die Pflicht nehmen zu lassen, zur eigenen Verantwortung und oftmals unbequem «dazwischen» zu stehen und gegen den Strom zu schwimmen. In den Schrifttexten hören wir von Menschen, die aus erschreckenden und berührenden Ereignissen mehr machen als zu verdrängende oder sentimentale Erinnerungen.

Mit Israel lesen

Jesaja schildert seine Beauftragung als gewaltiges Schwellenerlebnis, das ihn als Vision und Audition zugleich im Tempel Gott begegnen lässt. Eine überwältigende Fülle sinnlicher Eindrücke macht diese Gotteserfahrung zu einem überaus intensiven, schmerzenden und erschütternden Erlebnis. Fast alle Sinne werden in einer bedrängenden Art und Weise angesprochen: Die Augen nehmen ungewohnte Erscheinungen wahr. Die Ohren werden mit Rufen gefüllt, so laut, dass sie Türschwellen und Menschen erzittern lassen. Die Nase nimmt den Duft des Rauchs vom Rauchopferaltar auf, der je mehr er den Tempel füllt, etwas Erstickendes hat und zur Nebelwand wird. Und schliesslich werden die Lippen mit einem Stück glühender Kohle berührt. Jedes dieser Phänomene für sich könnte einschüchternd genug wirken. Kein Wunder, dass Jesaja davon spricht, er habe Jahwe gesehen, obwohl er nur die Überdimensionalität seiner Attribute beschreiben kann: den «ragenden» und «erhobenen» Thron, die Gewandschleppen, die allein schon die Mittelhalle des Tempels anfüllen, die geflügelten, schlangenartigen Wesen, die Jahwe sehr nahe stehen und als seine «Zebaot» Wechselgesang singend ihren Dienst vor ihm tun. Ihr Ruf des dreimal heilig kennzeichnet denn auch den auf dem Thron Sitzenden als den Allerheiligsten. Hier hat die für Jesaja typische Gottesbezeichnung «der Heilige (Israels)» ihren Ursprung. Jahwe ist Souverän über die ganze Erde, nicht nur Gott seines Volkes Israel: «Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit.» Die «Fülle», d. h. alle lebenden Wesen, werden damit als Jahwes Eigentum deklariert. Der Gesang der Serafim findet sich an einem zentralen Platz in der Synagogenliturgie, in der q’duscha, der «Heiligung» Gottes, wieder.

Jesajas Reaktion besteht in einem Schreckens- und Klageruf, der seine aufrichtige Selbsteinschätzung zum Ausdruck bringt: Er weiss sich inmitten seines Volkes, fest mit ihm verbunden. Er ist einer von vielen Gleichen, unrein wie sie. Seiner Unwürdigkeit gewahr, ist Jesaja gewiss, nunmehr sterben zu müssen, kann Sündiges doch vor Gott nicht bestehen. Mit seinen unreinen Lippen wird er ihm ohnehin anders als die Serafim nicht dienen können. Aber Jesaja wird keineswegs in jeder Hinsicht zum Schweigen gebracht – seine Lippen werden ganz im Gegenteil mit einem Stück glühender Kohle, die der Engel mit einer Zange hält, berührt, gereinigt und im rechten Sinn geöffnet. Anders als man es erwarten könnte, unternimmt er anscheinend keinen Versuch, der überwältigenden Erfahrung auszuweichen, sondern stellt sich ihr. Diese Initiative von Gottes Seite drückt ihn nicht endgültig zu Boden und zerstört ihn, sondern lässt ihn aus sich heraustreten und – jedenfalls für den Moment – sein Ego vergessen. Die läuternde Kraft des Feuers erneuert ihn und bahnt damit einer direkten Kommunikation zwischen Gott und Mensch den Weg. Jesaja kann jetzt die Stimme Jahwes selbst vernehmen und erklärt, ohne namentlich angesprochen zu sein und ohne zu wissen, worum es eigentlich geht, seine Bereitschaft, sich senden zu lassen.

In seiner neuen Rolle wird sein Platz weniger inmitten seines Volkes als ihm gegenüber sein; er wird es mit seiner Sündhaftigkeit und dem drohenden Strafgericht Gottes konfrontieren. Israel und jene, die Kapitel 6 zu Ende lesen, erfahren denn auch weit mehr (und Erschreckenderes) als die katholische Gottesdienstgemeinde gemäss Leseordnung. In den abschliessenden Versen 9 bis 13 kommt ein verstörender göttlicher Auftrag zur Sprache: «Verfette das Herz dieses Volkes, mache seine Ohren schwer und verklebe seine Augen.» (10a) Dies soll geschehen bis die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben sind und das Land zur Einöde wurde. Allenfalls ein heiliger Rest wird übrigbleiben. Will Jahwe mit diesem Verstockungsauftrag sein Volk wirklich ins Verderben treiben? Oder will er es provozieren und damit zur Umkehr anspornen? Mögen die Menschen ob der immer gleichen unbequemen Botschaft schon gar nicht mehr hinhören und sehen sie deshalb keinen Anlass ihre eingefahrene Spur zu verlassen? Geben sie im Nachhinein Gott die Schuld an der Katastrophe? Etliche weitere Deutungsversuche wurden unternommen .. . Als grundsätzliche Position der jüdischen Exegese findet sich im Talmud: «Bedeutend ist die Umkehr, denn sie zerreisst sogar den Urteilsspruch über einen Menschen.»

Jesaja verortet sein Sendungserlebnis konkret in der Geschichte Israels: im Todesjahr König Usijas. Ob er damit das reale Todesjahr, um 734, meint oder den Zeitpunkt seiner Erkrankung etwa fünfzehn Jahre zuvor, bleibt offen. Usija hatte sich angemasst, auf dem Rauchopferaltar zu opfern und wurde nach 2 Chr. 26, 16–20 für seinen Hochmut mit Aussatz bestraft, musste in Abgeschiedenheit leben und sich durch einen Mitregenten vertreten lassen. Welch schöne Polemik und zugleich Zusammenfassung ist da im ersten lapidaren Vers versteckt: Als der irdische König stirbt bzw. seine Macht verliert, sieht Jesaja den wirklichen König und Herrn über das Weltgeschehen, dessen Grösse zwar jegliche Vorstellung übersteigt, der aber dennoch den Menschen nahe kommt und die Macht hat, ihnen ihre Unreinheit nicht nur bewusst zu machen und sie zu strafen, sondern auch sie zu heilen.

Mit der Kirche lesen

Seit der Zeit Jesajas hat sich nichts geändert: Zur Zeit Jesu wie heute müssen Menschen, die sich für eine Sache einsetzen, die prophetisch wirken, Unbequemes aussprechen und niemandem nach dem Mund reden, nach wie vor damit rechnen, nicht gehört und früher oder später verlacht oder verfolgt zu werden. Anders ist es auch Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern nicht ergangen, unabhängig davon, dass ihre Botschaft eine befreiende und keine drohende war. Von diesen Konsequenzen einer gelebten Berufung ist in der Evangelienperikope noch nicht die Rede.

Die Fischer-Jünger erfahren ihre Beauftragung an ihrem Ort, dem See Gennesaret, wie Jesaja die seine an seinem, dem Tempel. Für sie ist es die überwältigende Fülle des Fischfangs am helllichten Tag, die sie überrascht und betroffen macht und die Simon gleich Jesaja bekennen lässt: «Ich bin ein Sünder.» Die erschütternde Erfahrung lässt ihn ahnen: Gott ist nahe.