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Vom Wunderglauben zum Glaubenlernen. Das Markusevangelium   

Peter Zürn zum Lesejahr B, SKZ 48/2005

Die Geschichte vom «Seewandel Jesu» kann als Zugang zum Markusevangelium und zum Lesejahr B gelesen werden. Im sechsten Kapitel des Markusevangeliums wird folgende Geschichte erzählt:

«Und gleich nötigte er seine Jünger, ins Boot zu steigen und vorauszufahren zur Jenseite nach Betsaida, derweil er selber die Leute entlasse. Nachdem er sie verabschiedet hatte, ging er auf den Berg, um zu beten. Und es war Abend geworden, als das Boot mitten im See war, und er noch allein an Land. Als er sieht, wie sie mit dem Rudern sich quälen – denn der Wind war ihnen gegenwehig – kommt er um die vierte Nachtwache zu ihnen, einherschreitend auf dem See. Und er wollte an ihnen vorübergehen. Wie sie ihn aber auf dem See einherschreiten sahen, wähnten sie, er wäre ein Gespenst.

Und sie schrien auf; denn alle sahen ihn und gerieten durcheinander. Aber gleich redete er mit ihnen und sagt zu ihnen: Fasst euch! Ich bin es. Ängstigt euch nicht. Dann stieg er zu ihnen ins Boot, und der Wind erlahmte. Doch sie gerieten ganz ausser sich – über die Massen. Denn sie hatten bei den Broten nichts verstanden; ihr Herz war harthörig» (Mk 6,45–52, übersetzt von Fridolin Stier).

Vorsicht vor Überschriften!
Welche Überschrift würden Sie für diese Geschichte wählen? Die Einheitsübersetzung schlägt vor: Der Gang Jesu auf dem Wasser. Die Lutherübersetzung wählt: Jesus kommt zu seinen Jüngern auf dem See.

Vorsicht vor der Überschrift! Jede Überschrift ist eine Interpretation, sie lenkt unsere Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung. Die Einheitsübersetzung rückt das «Wunder» ins Zentrum der Aufmerksamkeit, das Überschreiten physikalischer Grenzen durch Jesus. Die Lutherübersetzung dagegen stellt die Begegnung zwischen Jesus und den Jüngern in den Mittelpunkt und kommt damit – meiner Meinung nach – der Absicht des Markusevangeliums näher. Denn es verwendet viel Mühe darauf, immer wieder deutlich zu machen: Wunder allein reichen nicht aus, um zu verstehen, wer Jesus wirklich ist. Jesus selbst verhindert im Markusevangelium immer wieder, dass ein Bekenntnis zu ihm verbreitet wird, das nur auf seiner Wundermacht beruht. Die sogenannten Schweigegebote nach Wundererzählungen sind einer der roten Fäden durch das Evangelium, wie etwa in 3,11: «Er aber verbot ihnen streng, bekannt zu machen, wer er sei.» Die Bedeutung Jesu bleibt ein Geheimnis, auch für Menschen, die sich ihm eng verbunden fühlen wie die Jüngerinnen und Jünger. Immer wieder erzählt das Markusevangelium von ihrem Unverständnis, von ihren Schwierigkeiten zu glauben. Das Markusevangelium gibt nicht vor, dass der Glaube an Jesus, dass die Orientierung an seinem Leben, dass die Nachfolge Jesu eine sofort einleuchtende, einfache und ein für alle Mal klare Sache sei. Im Gegenteil.

Eine Geschichte vom Glaubenlernen
Das Markusevangelium ist die Erzählung von mühsamen und schwierigen Lernprozessen, eine Geschichte vom Glaubenlernen. Im Markusevangelium werden die Menschen, die glauben lernen wollen, immer wieder damit konfrontiert, dass sich die Bedeutung Jesu zwar auch in heilender und befreiender Macht und in der Autorität eines mit Vollmacht lehrenden Rabbis und Gleichniserzählers zeigt, aber eben nicht nur: Sie zeigt sich auch in der Angefochtenheit, im Leiden und im Tod. Das Markusevangelium bezeichnet sich gleich zu Beginn als «Heilsbotschaft von Jesus: dem Messias, Gottes Sohn» (Mk 1,1).Was «Sohn Gottes» bedeutet, leuchtet in Jesu heilendem und befreienden Wirken auf, es erschliesst sich aber letztlich erst angesichts des Kreuzes. Ohne diese Dimension bleibt das Bekenntnis zu diesem Jesus, bleibt der Glaube an ihn unvollständig und missverständlich. Das erste uneingeschränkte und nicht mit einem Schweigegebot belegte Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes legt im Markusevangelium erst ein römischer Hauptmann unter dem Kreuz ab (Mk 15,39).

Kreuzweg und Auferstehungsweg
So erzählt das Markusevangelium vom Anfang her gelesen den Weg Jesu als Kreuzweg, von seinem Ende her gelesen jedoch zugleich als Auferstehungsweg. Am leeren Grab erfahren die Frauen, die den Leichnam salben wollen: «Jesus sucht ihr, (…) den Gekreuzigten – auferweckt ward er» (Mk 16,6). Der Gekreuzigte ist der Auferweckte. Der Auferweckte ist der Gekreuzigte. Sein Lebens- und Leidensweg bleibt sichtbar und war nicht sinnlos. Gott hat Leiden, Tod und Zerstörung verwandelt und daraus neues Leben geschaffen. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Die Frauen erfahren, dass der Auferweckte ihnen und den anderen Jüngerinnen und Jüngern vorangeht, dass sie gerufen sind, ihm nachzufolgen, ihr Leben an seinem auszurichten und so dem Auferstandenen zu begegnen. Von diesem Schluss her gelesen wird das ganze Markusevangelium zu einer grossen Erzählung vom Prozess der Auferweckung zum Leben. Es geht um die Auferweckung aller, die von der Botschaft und der Praxis Jesu berührt werden. Das Markusevangelium erzählt an vielen Beispielen, dass der Tod nicht erst nach dem Sterben, sondern schon mitten im Leben besiegt wird.

Markus 6 als Ostergeschichte
Deswegen ist auch die Erzählung im 6. Kapitel des Markusevangeliums nicht in erster Linie eine Wundergeschichte, sondern viel eher eine Ostergeschichte. Sie erzählt von einem Vorschein des Ostermorgens in das Alltagsleben der Jüngerinnen und Jünger. Der Jesus, der auf dem See wandelt und in ihre blinde Angst eintritt, ist der österliche, der auferweckte Jesus. So weist das «Wunder» über sich hinaus, es ist nichts anderes als das Versprechen Gottes, dass Rettung da ist, wo nach menschlichem Ermessen keine Rettung möglich ist. Die Jünger befinden sich mitten in der Nacht – in der Nacht und den Wassern des Todes – sie stecken fest, kommen aus eigener Kraft nicht weiter. Vielleicht beten sie in ihrer Not den Psalm 69: «Hilf mir, oh Gott! Schon reicht mir das Wasser bis an die Kehle (…) die Strömung reisst mich fort.» Da begegnet ihnen die lebensrettende Kraft Gottes und kommt auf sie zu. Noch sind sie nicht in der Lage dies zu erkennen und sich der Kraft anzuvertrauen. Deswegen endet die Geschichte im Markusevangelium merkwürdig offen und auf den ersten Blick unbefriedigend. Die Jünger haben nichts gelernt – aber warum wird diese Geschichte dann erzählt? Sie endet mit einer Frage an mich und an jede Leserin und jeden Leser: «Wo stehst du mit deinem Glauben? Wo stehst du mit deinem Vertrauen in das Leben vor dem Tod und über den Tod hinaus?» Die Geschichte hat kein wirkliches Ende. Ich muss diese Geschichte weiterbringen, einem Ende näher. In einem Lernprozess, meiner Lebens und Glaubensgeschichte, zu einem Ende, in dem ich selbst vorkomme.

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Markus. Bibel heute Nr. 150/2. Quartal 2002. Fr. 10.– zuzüglich Versand. Die Beiträge des Heftes verstehen sich nicht als ein Kompendium an Expertenwissen über Markus und sein Evangelium, sondern als eine Art «Verführung zum Lesen». Sie wollen Lust machen, selbst etwas zu entdecken und es so zu lesen, als sei es gerade neu erschienen. Das Heft ist mit zahlreichen Schwarz-Weiss-Bildern des iranischen Fotografen ABBAS von der renommierten Fotoagentur MAGNUM illustriert. Seine Fotos, Momentaufnahmen des heutigen Christentums von allen Kontinenten, illustrieren eindrücklich die Wirkkraft der Evangelien, die mit dem des Markus ihren Anfang nahmen.

Markus entdecken. Lese- und Arbeitsbuch zum Markusevangelium. Stuttgart 1996, 144 S., br., Fr. 8.– zuzüglich Versand. Dieses Lese- und Arbeitsbuch vereinigt zu zwölf zentralen Texten aus dem Markusevangelium allgemeinverständliche Erklärungen sowie jeweils Vorschläge für eine Bibelarbeit in der Gruppe. Ausserdem ermöglichen Impulsfotos mit beigefügten meditativen Texten einen eher spirituellen Zugang zum Markusevangelium.

Die Bibel lesen – auf welche Weise? Bibel heute 162/2. Quartal 2005. Fr. 10.– zuzüglich Versand. Darin finden sich unter dem Titel «Zu neuen Ufern» eine schrittweise Lektüre von Markus 6,45–52 sowie zahlreiche weitere Anregungen zur Bibelarbeit.

Peter Zürn ist Theologe, Familienmann und Glaubenslehrling, er ist Fachmitarbeiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle in Zürich.